
Diese indische Künstlerin verbindet Ost und West über die Schweiz

Seit sie 2018 in die Schweiz gezogen ist, hat Ishita Chakraborty ihre Arbeit vertieft und geografische und konzeptionelle Grenzen von Indien bis Brasilien aufgelöst. In ihrem Schweizer Atelier spricht sie über ihre restriktive Erziehung und darüber, wie Kochen über die Kunst hinausgeht.
In diesem Sommer ist Ishita Chakraborty wahrscheinlich die bekannteste Person der Aargauer Kantonshauptstadt Aarau. Ihr Name prangt auf Plakaten in der ganzen Innenstadt, die für ihre Einzelausstellung im Aargauer Kunsthaus werben. Die Ausstellung folgt auf den Gewinn des bedeutenden Manor-Kulturpreises und festigt ihre Stellung als aufstrebendes Talent in der Schweizer Kunstszene.
Chakraborty könnte sich jetzt zurücklehnen und die Anerkennung geniessen, die sie für ihre von vielen Reisen, Experimenten mit künstlerischen und poetischen Formen sowie harter Arbeit geprägte Karriere erhalten hat. Doch sie ist rastlos.
Wir treffen uns in ihrem Atelier in der Nähe von Aarau, kurz bevor sie zu Recherchereisen nach London und Liverpool aufbrechen will. Sie ist aufgeregt, aber auch überwältigt.
Neben den Preisen und Einladungen bereitet sie auch eine für September geplante Einzelausstellung in der Galerie Peter Kilchmann vor. Kilchmann ist einer der renommiertesten Kunsthändler in Zürich.

Hürden überwinden
Chakraborty wurde in Sheoraphuli geboren, einem kleinen Dorf 30 Kilometer nördlich von Kolkata. Sie wuchs im Norden der Provinz Bengalen in der Nähe des Himalaya auf und schloss ihr Studium in Kolkata ab. «Ich musste schon sehr früh an meine Grenzen gehen», sagt sie. In einer streng patriarchalischen Gesellschaft war ihr Geschlecht von Anfang an eine Hürde, obwohl ihre Familie mütterlicherseits recht fortschrittlich war.
Ein weiteres Hindernis, das es zu überwinden galt, war die Schichtzugehörigkeit – noch mehr als die Kaste. «Ich gehöre zwar zu einer oberen Kaste, aber nicht zur Oberschicht. Meine Familie gehörte zur unteren Mittelschicht», sagt sie. Und dann war da noch ihre Hautfarbe. «Ich wurde so dunkelhäutig geboren, dass ich in einigen Teilen meiner Familie nicht sehr willkommen war.» All diese Faktoren schränkten ihr Leben stark ein, doch Chakraborty wollte sich nicht in eine Schublade stecken lassen und die Rolle der gehorsamen Frau spielen.
Nach einer akademischen Wanderkarriere und mehreren Gelegenheitsjobs in Kalkutta bewarb sich Chakraborty für einen Künstlerinnenaufenthalt in Aarau. Abgesehen von den Fantasie-Musiksequenzen in Bollywood-Filmen, die in der Schweiz gedreht wurden, und billigen Landschaftsplakaten wusste sie fast nichts über die Schweiz. «Eigentlich hatte ich gar kein Bedürfnis, nach Europa zu gehen», sagt sie. «Ich war einfach neugierig.»

Die mentale Landkarte
Der halbjährige Aufenthalt führte zu einem Masterstudium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und schliesslich zur Heirat mit dem Schweizer Fotografen Thomas Kern, dem Autor der Bilder, die diesen Artikel begleiten. (Thomas Kern arbeitet als Bildredaktor bei SWI swissinfo.ch).
Das Spektrum ihrer Tätigkeit hat sich natürlich erweitert. «Wenn ich mir diese Karte ansehe, die Reiseroute meiner Tätigkeit, stelle ich fest, dass sie im Lauf der Zeit immer intersektionaler geworden ist: Am Anfang interessierte ich mich mehr für Geschlecht, Ethnie und Klasse, aber inzwischen sind meine Interessen viel breiter gefächert», sagt sie und fügt hinzu: «Ausserdem bin ich oft umgezogen, sodass die Themen Heimat und Migration schon immer präsent waren, bevor ich in die Schweiz zog.»
Die Schweiz bot auch neue Dimensionen – im wahrsten Sinn des Worts. Zu Beginn arbeitete Chakraborty in kleinem Rahmen mit Aquarellen und Miniaturen. «Das hatte mit den Räumen zu tun, in denen ich mich aufhielt. Ich lebte in kleinen Zimmern und reiste viel mit Zug und Bus. Dank der Preise und Stipendien kann ich mir jetzt ein Atelier leisten. Das eröffnet mir physischen und mentalen Raum für grössere Installationen. Das heisst aber nicht, dass ich mit den kleinen Arbeiten aufhöre. Ich mag es, zwischen Gross und Klein abzuwechseln.»
Da Chakraborty in Europa mit einer Denkweise lebte, die sich auf Fragen von Geschlecht, Klasse und Ethnie konzentrierte, musste sie sich zwangsläufig mit der Frage des Kolonialismus auseinandersetzen. Und genau wie die kolonialistischen Expeditionen führten ihre Nachforschungen und ihre Neugier sie an weit entlegene Orte. So zeichnete sie etwa eine alte portugiesische Route aus der Sicht der Kolonisierten nach.
Are you «indian»?
Indien und Brasilien sind antipodische Länder, die zu weit voneinander entfernt sind, um enge Beziehungen zu entwickeln, die über diplomatische Beziehungen (beide Länder sind Mitglieder der BRICS-Staaten) und in bescheidenem Umfang über Handelsbeziehungen hinausgehen. Doch vor fünf Jahrhunderten standen sie sich sehr viel näher, als dieselbe Kolonialmacht – Portugal – an ihre Küsten vordrang.
Chakrabortys Erkundung des Amazonas wurde durch eine zufällige Begegnung während einer Ausstellung in Basel ausgelöst. Sie lernte die Keramikerin und Aktivistin Vandria Bonari aus jenem Gebiet kennen. Ihr erstes Gespräch wiederholte sich während ihrer Reise fast anekdotenhaft, sagt sie.
«Sie fragte mich: ‘Are you indian?’», erinnert sich Chakraborty. «Ich sagte: ‘Oh ja, woher wissen Sie das?’ Ich dachte, oh, ich sehe wohl sehr indisch aus. Aber dahinter steckte noch ein weiterer Dialog, denn dann fragte sie mich, aus welcher Gemeinschaft ich stamme», lacht sie und fügt hinzu: «Und dann haben wir festgestellt, dass wir beide ‘indian’ sind, was eigentlich eine Bezeichnung ist, die von den Kolonialherren in Indien und Amerika erfunden wurde.»
Chakraborty beschloss, sich um ein Stipendium der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia zu bewerben und verbrachte 2024 drei Monate im brasilianischen Amazonasgebiet. «Die Karten in meinem Kopf sind sehr klein. Sie erweitern sich, wenn es nötig ist», sagt sie.
Über die Sprache entdeckten Borari und Chakraborty viele Berührungspunkte. «In meiner Muttersprache gibt es viele portugiesische Wörter, weil ich im Ganges-Delta am Hooghly-Fluss aufgewachsen bin. Dort gründeten die Portugiesen einen Handelsposten, lange bevor die Briten ihn übernahmen. Daher sage ich in meiner bengalischen Sprache auch janela [Fenster] und varanda [Balkon], um nur zwei Beispiele zu nennen.»

Natur und Kultur sind eins
Für Chakraborty werden diese gemeinsamen Aspekte zu einer Brücke zwischen den beiden Kulturen, die auch mit ihrer jeweiligen Vergangenheit verwoben sind. Als sie in den Amazonas ging, hatte sie noch kein konkretes Projekt im Sinn. «Ich habe Pro Helvetia gesagt, dass ich dort nichts produzieren will. Ich spüre oft diesen Druck aus dem Westen, immer produktiv zu sein. Wenn man irgendwohin geht, muss man etwas mitbringen. Das wollte ich verlernen. Mein primäres Ziel war es, mit diesen Menschen zu leben», sagt sie.
Chakraborty lebte in der Region des unteren Tapajós-Flusses im Bundesstaat Pará, dessen Hauptstadt Belém Gastgeberin der COP30 sein wird, und wandte einen ähnlichen Ansatz wie in den Sundarbans an. Die Sundarbans sind das grösste Mangroven-Delta Bengalens nahe der indischen Grenze zu Bangladesch. An beiden Orten, so Chakraborty, unterscheiden die Menschen nicht zwischen Natur und Kultur: «Die Koexistenz dieser beiden Bereiche ist im täglichen Leben tief verwurzelt und wird in den unzähligen Ritualen noch deutlicher sichtbar.»

In den indischen Sundarbans war Chakraborty auf der Suche nach den Widerstandsliedern der Fischerinnen. «In ihren Erzählungen und Liedern geht es darum, den Wald nicht zu stark zu beanspruchen. Sie singen über die reiche Vielfalt des Ökosystems. Es ist ein dichter Wald, in dem Krokodile, Tiger, Fische und Menschen leben. Aber mich interessiert nicht der schöne Teil, sondern es sind die Geschichten dieser Frauen.»
Die Vorliebe für Curry
Für die Fischerinnen der Sundarbans und die indigenen Gemeinschaften des Amazonas ist das Kochen ein sehr wichtiges Ritual. Dabei wird durch das Mischen von Zutaten und Gewürzen der koloniale Einfluss auf die Migration von Pflanzen und die Verschmelzung von Geschmäckern deutlich.
So führten die Portugiesen Cashewnüsse in Indien ein und brachten Mango- und Kokosnusskerne nach Brasilien. Für Chakraborty sind die Currymischungen, die in jedem westlichen Supermarkt zu finden sind, ein gutes Beispiel: «Meistens hat man keine Ahnung, was in diesen kleinen Gläsern drin ist.»
Was wir heute als Elemente von Curry wahrnehmen, hat viel mit kolonialem Austausch, Besatzung und der Migration von Pflanzen zu tun. «Das sind auch Migrationsgeschichten. Ich mag es, kleine Punkte zu verbinden», sagt sie.

«Jede indische Familie und jeder indische Koch mischt ein eigenes Curry. Das hängt auch mit der Region, der Jahreszeit und der Temperatur zusammen. Jede Zutat spielt eine bestimmte Rolle in unserem Körper», sagt sie. «Wie viel Kreuzkümmel sollte man für dieses spezielle Curry verwenden und warum? Warum verwendet man rohe Koriandersamen? Weil sie den Körper beruhigen. Wenn man eine bestimmte Menge Paprika hinzufügt, muss man eine entsprechende Menge Kurkuma dazumischen, um den Körper an die Hitze des Landes anzupassen.»
Ishita Chakraborty – Manor Art Prize 2024Externer Link
Zu sehen im Aargauer Kunsthaus bis 24.8.2025
Ishita Chakraborty at Galerie Peter KilchmannExterner Link
Vom 19. September bis 25. Oktober 2025 in Zürich
Editiert von Catherine Hickley/gw

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