
Hilft Neutralität dem Frieden? Ein Blick auf die Schweiz und ihre Guten Dienste
Die Neutralität ist nicht an sich friedensfördernd. Historisch betrachtet ist sie keine notwendige Bedingung für den Erfolg von Guten Diensten in bewaffneten Konflikten, schreibt die Historikerin Liliane Stadler.
In der Schweiz wird oft angenommen, dass zwischen der dauernden Neutralität und der Fähigkeit eines Staates, sogenannte Gute Dienste zu erbringen, ein kausaler Zusammenhang besteht. Auch im Zuge der aktuellen Diskussion über die Neutralitätsinitiative, über die 2026 abgestimmt wird.
Die russische Invasion der Ukraine 2022 hat international zu Diskussionen über Neutralität und zur Neuausrichtung vormals neutraler Staaten geführt. So sind etwa Finnland und Schweden der NATO beigetreten. Im Vergleich wird die Schweiz international noch heute weitgehend als dasjenige Land, wahrgenommen, welches bereits am längsten und striktesten neutral ist.
Dennoch hat der Ukrainekrieg seit 2022 auch in der Schweiz zu einer tiefgreifenden Neutralitätsdiskussion geführt. Infolge der Beteiligung des Bundesrats an den Sanktionen der EU gegen Russland reichte ein Initiativkomitee aus Vertretenden vom Verein Pro Schweiz im November 2022 die sogenannte Neutralitätsinitiative ein.
Diese sieht eine Neutralitätsdefinition in der Verfassung vor, welche auf folgenden Komponenten beruht: Die Neutralität der Schweiz soll immerwährend und bewaffnet sein, Beitritte zu Militär- und Verteidigungsbündnissen ausschliessen, die Teilnahme an multilateralen Sanktionen verhindern. Gleichzeitig solle die Schweiz ihre Rolle als neutrale Vermittlerin in bewaffneten Konflikten betonen.

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Die Neutralität der Schweiz – wohin des Weges?
Gute Dienste umfassen all jene Massnahmen, die ein Staat, eine internationale Organisation, oder ein nichtstaatlicher Akteur erbringen kann, um als unbeteiligte Drittpartei zu einer friedlichen Lösung eines bewaffneten Konfliktes beizutragen. Unter diesen Begriff fallen unter anderem Gastgeberdienste für Friedensgespräche, Schutzmachtmandate, und Vermittlungsdienste. Historisch betrachtet gehörten auch Streitschlichtung und Schiedsverfahren zu den Guten Diensten.
Die Schweiz erlangte ihren Ruf als langjährige Erbringerin guter Dienste jedoch nicht als Vermittlerin, sondern aufgrund zahlreicher Schutzmachtmandaten im 19. und 20. Jahrhundert. Damit verwaltete die Schweiz teilweise über Jahre hinweg diplomatische Kommunikationskanäle zwischen verfeindeten Staaten, welche ihre diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen hatten. Während dem ersten Weltkrieg unterhielt die Schweiz 36 Schutzmachtmandate und während dem Zweiten Weltkrieg weitaus mehr.
In Anschluss an den Koreakrieg vom 1950 bis 1953 übernahm die Schweiz beispielsweise gemeinsam mit Schweden, der Tschechoslowakei und Polen ein Schutzmachtmandat an der innerkoreanischen Grenze. Dieses MandatExterner Link dauert bis heute an. Auch während des Kalten Kriegs konzentrierte sich die Schweiz hauptsächlich auf Schutzmachtmandate und humanitäre Hilfe.

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Die Schweiz als Vermittlerin – eine durchzogene Bilanz
Eine durchzogene Bilanz
Im Bereich der Vermittlung zwischen verfeindeten Parteien ist der Leistungsausweis der Schweiz historisch betrachtet allerdings durchzogen.
Global betrachtet handelt es sich bei der Vermittlung mehrheitlich um ein Phänomen der Nachkriegszeit ab 1945. Der erste Schweizer Versuch, während der sogenannten Suezkrise von 1956, war erfolglos. Damals versuchte die Schweiz, den Angriffskrieg Frankreichs und Grossbritanniens auf Ägypten durch Friedensgespräche auf Schweizer Boden beizulegen. Dieser Vorschlag wurde jedoch von sämtlichen Konfliktparteien und von den Vereinten Nationen – bei der die Schweiz damals nicht mal Mitglied war – abgelehnt.
1961 erzielte die Schweiz einen Achtungserfolg, indem sie die Friedensgespräche in Evian zwischen Algerien und Frankreich aktiv als Vermittlerin unterstützte. Diese führten 1962 zur Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich.
Weitere Vermittlungsversuche im Kontext der Geiselaffäre im Iran 1979 und der Falklandkrise zwischen Grossbritannien und Argentinien 1982 wurden jeweils wiederum von den Konfliktparteien abgelehnt. 1991 vermittelte die Schweiz nach Abzug der Sowjetunion aus Afghanistan zwischen dem afghanischen Regime und der Widerstandsbewegung der Mujahideen, doch das Regime stürzte 1992 mit dem Rücktritt des afghanischen Präsidenten Mohammed Najibullah.
Die 1990er-Jahre gelten unter Historikerinnen und Historikern als ein Jahrzehnt, in dem die Guten Dienste der Schweiz im Bereich der Vermittlung erst so richtig in Fahrt kamen.
Im Jahr 1991 war die Schweiz im Kontext des damaligen Golfkrieges Gastgeberin eines Gipfeltreffens zwischen dem amerikanischen Aussenminister James Baker und seinem irakischen Amtskollegen Tariq Aziz. Edouard Brunner, ein ehemaliger Schweizer Staatssekretär wurde zum UNO-Vertreter im Nahostkonflikt ernannt und sein Nachfolger, Klaus Jacobi, engagierte sich auf dem Balkan für Friedensgespräche zwischen dem serbischen Präsidenten Slobodan Milošević und seinem kroatischen Amtskollegen Franjo Tuđman.
Zwischen dem Jahr 2000 und 2018 war die Schweiz offiziell in etwa 20 Konflikten im Bereich der Vermittlung tätig, unter anderem in Konflikten im Sudan, in Nepal, in Syrien, in Kolumbien, und als Gastgeberin der Verhandlungen über das iranische Atomwaffenprogramm in Lausanne zwischen 2008 und 2015.
Als Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) leitete die Schweiz die sogenannte trilaterale Kontaktgruppe zur Ukraine im Jahr 2014, seither engagierte sie sich unter anderem für friedliche Konfliktlösungen in Tunesien, Myanmar, Simbabwe, und Mosambik. Die Bilanz der guten Dienste in diesen Fällen war jedoch im Endeffekt durchzogen.
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Andere Akteure spielen mit
Dies liegt nicht unbedingt an den Anstrengungen der offiziellen Schweiz – es handelt sich dabei um äusserst komplexe Konflikte. Hinzu kommt, dass die Schweiz nicht die einzige Anbieterin Guter Dienste ist. Es engagieren sich internationale Organisationen, andere neutrale und insbesondere zunehmend nichtneutrale Staaten in der Vermittlung bei Konflikten.
So organisierte die Schweiz zwar 2021 ein Gipfeltreffen zwischen dem damaligen amerikanischen Präsidenten Joe Biden und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Abzug Amerikas aus Afghanistan im selben Jahr wurde jedoch in Katar ausgehandelt. 2022 und 2024 organisierte die Schweiz wiederum zwei Konferenzen zum Krieg Russlands in der Ukraine. Doch eigentliche Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine fanden bisher in der Türkei und in Saudi-Arabien statt. Unter Präsident Donald Trump engagierten sich die USA zeitweise selbst für eine friedliche Lösung. In der Zwischenzeit führte die Vermittlung Chinas 2023 zu der Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien.
Gesamthaft betrachtet ist es daher relativ schwierig, aus der Geschichte ein klares Muster oder einen zwingenden kausalen Zusammenhang zwischen der Neutralität und den Guten Diensten herzuleiten.
Bei der Vergabe von Vermittlungsmandaten sowie bei erfolgreichen Friedensverhandlungen war die Neutralität historisch betrachtet relativ selten ausschlaggebend. Die Guten Dienste der Schweiz werden international geschätzt und der Erfahrungsschatz des Schweizer Aussenministeriums in diesem Bereich ist mittlerweile beachtlich.
Dies spricht dafür, dass sich die Schweiz weiterhin im Bereich der Guten Dienste engagieren sollte. Sollte die Neutralitätsinitiative jedoch an der Urne erfolgreich sein, dann aus Gründen der Tradition und der nationalen Identität, nicht aufgrund der weit verbreiteten Annahme, dass die Neutralität an sich friedensfördernd ist.
Editiert von Benjamin von Wyl

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