Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Keine Verschnaufpause für Kriegsverbrecher

Aleppo ist seit dem 20. Januar, nach einer blutigen Schlacht, wieder in Händen der syrischen Armee. Die Syrien-Kommission dokumentierte in ihrem letzten Bericht Verbrechen auf beiden Seiten, besonders aber durch die Streitkräfte Assads. Keystone

Letztes Jahr kündigten einige Staaten den Rückzug ihrer Mitgliedschaft beim Internationalen Strafgerichtshof an. Das war ein Rückschlag im Kampf gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch ein Verfahren in der Schweiz gegen einen ehemaligen gambischen Minister gibt neue Hoffnung. Ein Schweizer Experte erklärt die Hintergründe.

Philip GrantExterner Link war wesentlich daran beteiligt, dass im Januar der ehemalige gambische Minister Ousman Sonko in der Schweiz verhaftet wurde.

Grant ist Gründer der Schweizer Menschenrechts-Organisationen “Track Impunity Always” (Trial), die Verantwortliche für internationale Verbrechen verfolgt (Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, gewaltsames Verschwindenlassen, sexuelle Gewalt und aussergerichtliche Hinrichtungen).

swissinfo.ch: Gambia möchte selber über seinen ehemaligen Innenminister richten. Was halten Sie davon?

Philip Grant: Wenn das Verfahren unter guten Bedingungen durchgeführt werden kann, nah am Ort des Verbrechens oder der Opfer, dann ist das die beste Lösung. Für Gambia, das sich von einem extrem repressiven Regime gelöst hat, kann diese Art von Prozess enorm viel bringen – sowohl für die Opfer als auch für den Wiederaufbau des Rechtsstaats in diesem Land.

Doch in dieser Phase scheint mir das eher ein Wunsch als eine konkrete Forderung zu sein. Es wird Zeit brauchen, bis die neuen gambischen Behörden ein formelles Auslieferungsgesuch an die SchweizExterner Link stellen können.

Darüber hinaus fordert die Staatsanwaltschaft des Bundes eine Garantie, dass der Ex-Minister nicht zum Tod verurteilt wird und einen fairen Prozess erhalte. Wenn man diesem Gericht einen Bildungswert geben will, dann muss es die internationalen Standards sowohl für den Angeklagten wie auch für die Opfer respektieren, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Aber solange das Auslieferungsgesuch von Gambia nicht eingereicht ist, bleibt die Schweiz zuständig und muss in dieser Sache vorwärtsmachen.

swissinfo.ch: Lässt sich das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit, das der Schweiz erlaubt, in diesem Fall tätig zu werden, verallgemeinern?

P.G.: Dieses Prinzip ergibt sich aus den verschiedenen Konventionen, wie derjenigen gegen die FolterExterner Link. Deren Artikel 6 verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, eine der Folter beschuldigte Person zu untersuchen, festzunehmen und gegebenenfalls strafrechtlich zu verfolgen, sollte sie sich auf ihrem Territorium aufhalten. Das hat die Schweiz im Fall des Gambiers getan.

Normalerweise gilt die universelle Gerichtsbarkeit für alle Staaten, welche die Konventionen gegen internationale Verbrechen unterzeichnet haben (besonders die Genfer Konventionen), also für praktisch alle Länder.

Aber die Länder müssen diese Vereinbarungen in ihrem nationalen Recht umsetzen und bestimmen, unter welchen Bedingungen dieses universelle Prinzip ausgeübt werden kann. Da liegt der Hase im Pfeffer, auch wenn eine Hundertschaft von Staaten unterzeichnet hat, zumindest auf dem Papier.

Philip Grant swissinfo.ch

In Europa wird dieses Prinzip praktisch jede Woche von einer grossen Anzahl Staaten angewendet. Und auch Argentinien griff Fälle aus dem Regime des spanischen Diktators Franco auf.

Auch in Afrika ist Bewegung festzustellen, wie der Prozess gegen den ehemaligen tschadischen Präsidenten Hissène Habré in Senegal gezeigt hat. Und Südafrika hat die Entwicklung einer Rechtsprechung über SimbabweExterner Link aufgenommen, wo Robert Mugabe immer noch mit harter Hand regiert. Komplizierter aber ist es in Asien und in der arabischen Welt.

swissinfo.ch: Gleichzeitig kündigte Südafrika aber an, aus dem Internationalen Strafgerichtshof auszutreten.

P.G.: In Südafrika hat ein hohes Gericht geurteilt, dass die Regierung nicht das Recht dazu hatte, ohne weiteres den internationalen StrafgerichtshofExterner Link zu verlassen. Die neue gambische Regierung hat entscheiden, den Austritts-Entscheid des Vorgänger-Regimes aufzuheben. Und in Afrika hat sich bisher kein Domino-Effekt eingestellt. Burundi ist bis jetzt das einzige Land, das ausgetreten ist.

Der Aufbau eines internationalen Rechtsrahmens im Kampf gegen die Straflosigkeit ist immer schwierig und mit Fortschritten und Rückschlägen verbunden. Man sieht alles: von der kompletten Straflosigkeit bis zum Aufbau von Super-Tribunalen, von denen man sich die Lösung aller Probleme erhoffte. In einigen Fällen ging die universelle Gerichtsbarkeit zu weit, wie in Spanien oder Belgien, die daraufhin deren Umfang einschränkten.

Heute pflegen die Akteure im Kampf gegen Straflosigkeit, besonders Nichtregierungs-Organisationen (NGO) wie die unsere, einen kämpferischen, aber vernünftigen Ansatz. So glauben wir etwa nicht, dass es gegenwärtig möglich wäre, George W. Bush für seine Übergriffe im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus zur Rechenschaft zu ziehen. Doch wenn wir uns auf eine gewisse Anzahl Dossiers konzentrieren und Schritt für Schritt vorwärts gehen, können wir die grossen Grundsätze und Regeln festlegen, nach denen eines Tages über eine Person wie Bush geurteilt werden könnte.

Portugal hat kürzlich eine CIA-Agentin festgenommen, die in Italien in Abwesenheit wegen der Entführung eines Imams verurteilt worden war. Die Entführung hatte im Rahmen des geheimen Programms der USA nach den Attentaten vom 11. September 2001 stattgefunden. Die Agentin sollte deshalb an Italien ausgeliefert werden.

swissinfo.ch: Haben Sie das Gefühl, dass die internationale Gerechtigkeit unaufhaltsam zunimmt, trotz all der Widerstände?

P.G.: Was den Internationalen Strafgerichtshof betrifft, da ist nur Burundi ausgetreten. Andere Austritte sind aber möglich, wie die Philippinen, deren psychopathischer Präsident Rodrigo Duterte vom Gerichtshof ins Visier genommen werden könnte.

Das Wiedererstarken der universellen Gerichtsbarkeit in einer Reihe von Staaten lässt sich damit erklären, dass viele Magistraten frustriert sind, weil sie festgestellt haben, dass die Blockaden von Russland oder China im UNO-Sicherheitsrat dazu führen werden, dass die in Syrien verübten Kriegsverbrechen nie vor dem Internationalen Strafgerichtshof landen werden.

Eine Reihe europäischer Staaten, besonders jene, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, entschlossen sich dazu, in dieser Frage aktiv zu werden. Wie uns verschiedene europäische Staatsanwälte erklärten, sind ihre Aktionen die Antwort auf ein echtes Bedürfnis grundlegender Gerechtigkeit.

Bei den verschiedenen Prozessen, die Syrien betreffen, fehlt es aber an einer echten Koordination: Die betroffenen Staatsanwälte müssen mehr Informationen austauschen, und sie sollen die verschiedenen Initiativen, die Kriegsverbrechen in Syrien dokumentieren, besser nutzen.

Um die Blockaden des Sicherheitsrats zu umgehen, hat die UNO-Vollversammlung ebenfalls reagiert und im letzten Dezember eine ResolutionExterner Link verabschiedet. Darin ist ein Mechanismus vorgesehen, um Untersuchungen der schwersten in Syrien begangenen Verbrechen zu erleichtern. Dieser sollte in einigen Wochen in Genf unter der Schirmherrschaft des Hochkommissars für Menschenrechte ins Leben gerufen werden.

Jedes Mal, wenn ein Hindernis auftaucht, werden Initiativen entwickelt, um dieses zu überwinden. Und immer mehr Opfern gelingt es, ihre Peiniger zur Rechenschaft zu ziehen.

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft