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“Volksrechte wie in der Schweiz wären für Deutschland ein Rückschritt”

Lächelnder Mann vor einem grossen Gebäude
"Die meisten Parteien in Deutschland begreifen die direkte Demokratie nicht als Chance, sondern nur noch als Risiko": Ralf-Uwe Beck von "Mehr Demokratie". zvg

Für Deutschlands grosse Parteien ist die direkte Demokratie vor der "Superwahl" vom 26. September kein Thema mehr. Im Interview erklärt Ralf-Uwe Beck, Sprecher der Bewegung "Mehr Demokratie" und Verfechter der bundesweiten Volksinitiative, warum das so ist – und wieso er dennoch voller Hoffnung ist.

Ralf-Uwe Beck war in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in oppositionellen Gruppen aktiv und kämpft seit über dreissig Jahren für mehr direkte Bürgerbeteiligung im wiedervereinten Deutschland.

Die NGO “Mehr Demokratie” ist dort einer der wichtigsten Antreiberinnen des Themas. Der Verein informiert Bürger:innen auf kommunaler und Landesebene über ihre Rechte, begleitet Initiativen und berät die Politik.

swissinfo.ch: Herr Beck, Deutschlands grossen Parteien ist die direkte Demokratie in ihren Programmen zur Bundestagswahl keine Erwähnung mehr wert. Hat das Thema überhaupt noch eine Chance?

Ralf-Uwe Beck: In den Gemeinden und allen Bundesländern haben sich die Volksrechte in den vergangenen 20 Jahren enorm entwickelt und es gab viel Bewegung. Umso unverständlicher ist jetzt dieser aktuelle Rückschritt auf Bundesebene.

Hier gehts zu den anderen zwei Beiträge unserer Mini-Serie:

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Dass sich sogar die Grünen von der Forderung abgewendet haben, enttäuscht mich besonders. Es zeugt von einem mangelnden Vertrauen in die Zivilgesellschaft und in die eigene Überzeugungskraft. Es ist selbstherrlich und arrogant.

Wie ist das wachsende Misstrauen gegenüber den Bürger:innen zu erklären?

Wir hatten über Jahrzehnte eine immer intensivere Auseinandersetzung über den Ausbau direktdemokratischer Verfahren. Dann bekam die Debatte durch den Brexit und den Auftritt der rechtsnationalen Alternative für Deutschland (AfD) eine starke Delle.

Man muss den meisten Parteien vorwerfen, dass sie sich derzeit mit der Rolle der direkten Demokratie nicht mehr auseinandersetzen und sie nicht als Chance, sondern nur noch als Risiko begreifen wollen.

Vielleicht ist sie den Deutschen auch nicht so wichtig? Sonst könnten die Parteien das Thema ja nicht derartig missachten.

Wir wissen aus Umfragen, dass sich drei Viertel der Deutschen mehr direkte Demokratie auch auf Bundesebene wünschen. Aber es stimmt, sie ist derzeit leider wirklich kein vordringliches Thema.

SWI swissinfo.ch widmet der richtungsweisenden Parlaments- und Kanzlerwahl im wichtigsten Land Europas eine dreiteilige Serie.  Den ersten Teil finden Sie hier.

Nach 16 Jahren endet am 26. September die Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Einerseits wird der neue Bundestag bestimmt, andererseits stellt die Partei mit den meisten Stimmen den Nachfolger oder die Nachfolgerin Merkels.

Im Hintergrund geht es in Deutschland auch um die im Grundgesetz (Artikel 20) verankerte Einführung nationaler Volksentscheide. Doch die direktdemokratischen Volksrechte, auf kommunaler Ebene und in den Bundesländern politischer Alltag, sind auf nationaler Ebene stark umstritten. Wir zeigen, wieso das so ist, welche Parteien auf der Bremse stehen und wie eine Volksinitiative die Hauptstadt Berlin aufmischt.

Woher rührt die Abwehrhaltung?

Häufig aus Unwissenheit. Die Argumente gegen bundesweite Volksabstimmungen lassen sich leicht entkräften. Der Brexit war ein Plebiszit, weil er von oben, vom damaligen Premierminister, angestossen wurde. Die Parteien haben dann das Referendum populistisch missbraucht. Und es gab keine ausgewogenen Informationen vor dem Entscheid.

So eine Form der direkten Demokratie will hier niemand. Sie gehört in die Hände der Bürgerinnen und Bürger, nicht der Regierungen.

Wäre die Schweiz ein Vorbild?

Sie spielen auf die AfD an, die Volksrechte wie in der Schweiz fordert. Das wäre für Deutschland ein Rückschritt.

Weshalb?

In der Schweiz kommt alles zur Abstimmung, was die Hürde für eine Volksinitiative nimmt. In Deutschland werden solche Begehren zunächst von den Verfassungsgerichten überprüft, ob sie Grund- und Minderheitenrechte antasten. Eine Volksinitiative für ein Bauverbot neuer Minarette würde in Deutschland gar nicht zugelassen, da es gegen das Grundrecht auf Religionsfreiheit verstösst.

Aus diesem Grund läuft auch der Verweis auf die Gefahr solcher Abstimmungen in Deutschland ins Leere. Sie könnten schlicht nicht stattfinden.

“Mehr Demokratie” macht sich seit kurzem für sogenannte Bürgerräte stark. Sind sie die konsensfähige Alternative zur direkten Demokratie?

Sie sind ein exzellentes Instrument der Beteiligung und spiegeln die Zusammensetzung der Gesellschaft. Aber zu denken, sie könnten die direktdemokratischen Volksrechte ersetzen, ist ein fataler Fehlschluss. Bürgerräte sind nicht mehr als ein Ratschlag, sie verpflichten die Politik zu gar nichts. Sie brauchen als Netz und doppelten Boden die direkte Demokratie. Sonst fehlt das Druckmittel, damit die Politik diese Ratschläge überhaupt ernst nimmt.

Aber wir müssen uns selbst fragen, ob wir der Politik mit dem Werben um Bürgerräte eine Bühne bauen, die direkte Demokratie für verzichtbar zu erklären. Die direkte Demokratie hat obenan zu stehen.

Es gibt ja auf kommunaler und Landesebene bereits umfassende direktdemokratische Instrumente. Haben Sie den Eindruck, dass die Deutschen ihre Rechte in dieser Hinsicht genügend kennen?

In Deutschland ist die direkte Demokratie noch immer ein junges Pflänzchen. Viele Menschen haben noch nie eine Erfahrung mit ihr gemacht. Es fehlt an Aufklärung.

Volksabstimmungen sieht das deutsche Grundgesetz bislang nur für zwei Fälle vor: Im Falle der Abstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung, wie zunächst nach der Wiedervereinigung angestrebt worden war. Und bei der Neugliederung des Bundesgebietes.

Beispiele dafür sind 1952 die Abstimmung über die Fusion der Länder Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern zum heutigen Baden-Württemberg und 1996 die Frage, ob Berlin und Brandenburg zu einem Bundesland verschmolzen werden sollen. Ersteres wurde positiv entschieden, letztere von der Mehrheit der Brandenburger abgelehnt.

Ich habe in Gesprächen erlebt, dass Menschen völlig erstaunt über die bestehenden Möglichkeiten waren. Hier liegt eigentlich eine staatliche Aufgabe. Da springen wir als Verein in die Lücke und informieren. Die Ratsuchenden müssen erst einmal verstehen, wie die Verfahren laufen und welche Möglichkeiten sie haben.

Gibt es auch Fälle, in denen sie von einer Initiative oder Referendum abraten?

Sie sind das letzte Mittel. Als erstes fragen wir, ob die Initiative das Gespräch mit der politischen Vertretung gesucht oder eine Petition eingereicht hat. Erst wenn man so nicht weiterkommt, sollte man zum Bürgerbegehren greifen. Allein dessen Ankündigung kann schon ein Umdenken in der Politik bewirken.

In Jena hat zum Beispiel vor wenigen Tagen der Stadtrat eine Volksinitiative für einen Klimaaktionsplan übernommen, die Unterschriftensammlung war gerade erst angelaufen. Die Initiative wollte mit der Stadt gar nicht ins Gespräch gehen. Wir haben das empfohlen.

Wer eine Volksinitiative starten möchte, sollte ausserdem wissen, welcher Aufwand hinter einer Kampagne steckt. Man braucht ein breites Bündnis von Unterstützer:innen, die das Thema hoch auf ihre Agenda setzen, einen langen Atem und ausreichend Ressourcen.

Aus welchen Themenfeldern kommen die meisten Bürger:innenvorstösse in Deutschland?

Derzeit sind das meist ökologische Themen. Signifikant zugenommen haben die Begehren zum Klimaschutz und zum Ausbau der Rad-Infrastruktur. 2014 gab es nur ein kommunales Bürgerbegehren zu dem Thema, 2019 waren es bereits 13 und im vergangenen Jahr 22.

Also Themen, die den Menschen im Alltag unter den Nägeln brennen.

Ja, die Vorstösse haben eine seismographische Funktion für die Politik und funktionieren als Problemanzeige. Sie bringen Themen auf die politische Agenda und machen sie durch Kampagnen öffentlich. Sie treiben Politik zur Auseinandersetzung und zum Handeln. Das verändert die politische Kultur.

Ein wunderbares Beispiel ist das erfolgreiche Volksbegehren zum Artensterben in Bayern. Der Ministerpräsident hat die Bauernlobby danach einfach wegtreten lassen.

Wie funktioniert das politische System der Schweiz? Unser Video klärt auf:

Könnte die direkte Demokratie durch Bewegungen wie Fridays for Future einen Schub erhalten? Sie pochen doch auch auf mehr direkte Mitsprache.

Fridays for Future hat vor politischen Zentralen demonstriert. Gut so. Aber sie haben bisher zu wenig beansprucht, mitentscheiden zu wollen. Aber da tut sich etwas. Fridays for Future ist mittlerweile an Bürgerbegehren für Klimaaktionspläne in den Städten beteiligt. Sie nutzen also die direkte Demokratie, sie sollten nun auch die Forderung nach ihrem Ausbau stark machen.

Vor dreissig Jahren hat der Runde Tisch der DDR eine neue Verfassung geschrieben. Welche Bedeutung hatte die friedliche Revolution unter einem gesamtdeutschen Blick für die direktdemokratischen Volksrechte?

Sie setzte einen Riesenimpuls. In der alten Bundesrepublik war über Jahrzehnte wenig zur direkten Demokratie passiert. 1989 waren nur in sechs von zehn Bundesländern Abstimmungen auf Landesebene möglich, nur Baden-Württemberg hatte sie auch auf kommunaler Ebene.

Der Runde Tisch hat das Thema besetzt, die direkte Demokratie floss dann in alle Kommunal- und Länderverfassungen der neuen Bundesländer ein. Das strahlte auf die alten Bundesländer ab. Alle haben heute die direkte Demokratie auf kommunaler und Landesebene.

Wie sie nutzbar ist und genutzt wird, steht auf einem anderen Blatt. In neun Bundesländern gab es bis heute keinen einzigen landesweiten Volksentscheid. Die Unterschriftenhürden sind oft viel zu hoch und Themen nicht zugelassen. Im Saarland gab es bisher nicht einmal einen Bürgerentscheid in einer Kommune. Dort müssen für ein Bürgerbegehren 13% bis 15% unterschreiben. Solche Hürden wären für die Schweiz undenkbar.

Haben Sie noch Hoffnung, dass sich die direkte Demokratie jemals auch auf Bundesebene etablieren kann?

Auf jeden Fall. Für die nächste Legislaturperiode sieht es allerdings schlecht aus. Hoffnung macht mir, dass in den Bundesländern nicht mehr diskutiert wird, ob es die direkte Demokratie braucht. Sondern nur noch, wie sie gut zu gestalten ist.

Hier geht es zu den Wahlprogrammen der deutschen Parteien: 

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