Das Mehl-Paradox
Daheim Brot backen oder Nudeln herstellen ist in dieser Zeit des teilweisen Lockdowns eine der beliebtesten Aktivitäten. Die Nachfrage nach Mehl schoss daher in die Höhe. Doch für die Mühlen, welche die Schweiz mit Mehl versorgen, ist die Produktion in dieser Periode paradoxerweise rückläufig. Warum das?
Es ist dieser Tage wohl allen schon einmal passiert, dass beim Einkauf plötzlich ein Grundnahrungsmittel im Regal fehlt. In der Schweiz sind die Notvorräte plötzlich wieder ein aktuelles Thema geworden. Die Nachfrage nach Dingen des täglichen Bedarfs oder nach langlebigen Lebensmitteln ist gestiegen. Auch Mehl ist viel mehr gefragt.
Und immer mehr werden auf Sozialen Medien Fotos mit selbstgebackenem Brot oder Nudeln gepostet. In diesen Tagen, in denen viele Menschen wegen Kurzarbeit oder vorübergehender Geschäftsschliessung viel Zeit haben und gelangweilt sind, kann es ein geselliger, spielerischer und nützlicher Zeitvertreib sein, die Hände in Teig zu stecken. Vielleicht auch, um die Kinder etwas zu beschäftigen. Sind das Brot, die Nudeln oder der Kuchen gelungen, wird sofort ein Foto auf Instagram gepostet.
Die Produktion von Mehl für den Hausgebrauch hat in den letzten Wochen dramatisch zugenommen. Das sagen sowohl Alessandro Fontana, Inhaber der Mühle Mulino di MaroggiaExterner Link, wie auch Coop-Pressesprecherin Marilena Baiatu.
Man könnte jetzt annehmen, dass die rund hundert Schweizer MühlenExterner Link wegen der hohen Nachfrage unter starkem Druck stehen. Ängstliche werden sich fragen: Gibt es wohl genug Mehl für die nächsten Wochen oder Monate? Die Antwort aber ist: Viele Mühlen haben paradoxerweise ihre Produktion zurückgefahren. Der Nachschub an Mehl ist für eine lange Zeit garantiert.
Mehlproduktion rückläufig
«Insgesamt ging die Produktion um 25 bis 30 Prozent zurück», sagt Mühleninhaber Fontana. «Normalerweise beziehen Delikatessengeschäfte und Bäckereien unser Mehl. Jetzt aber sind Restaurants und Pizzerien geschlossen. Die Bäckereien arbeiten reduziert und backen nur rund die Hälfte der Brotproduktion vor dem Gesundheitsnotstand.»
Viele Mühlen haben paradoxerweise ihre Produktion zurückgefahren
Die Kundschaft kauft das Mehl normalerweise in Säcken zu 25 Kilo. Aufgrund des Coronavirus hat sich die Kundschaft jetzt aber verändert: «Wir verzeichnen einen exponenziellen Anstieg der Nachfrage nach Mehl in Halbkilo- und Kilo-Packungen», sagt Fontana.
Vor der Krise machte der Sektor für den Einzelhandel ein Zehntel der Produktion aus. «Jetzt stellen wir in einer Woche so viele Mehlverpackungen zu einem Kilo her, wie wir normalerweise in einem Monat verpacken. Und die Tendenz ist steigend.»
Bei der Mühle «Swissmill»Externer Link, die täglich 1000 Tonnen Brotgetreide mahlt und dem grossen Detailhändler Coop gehört, laufen die Mühlen hingegen heiss: «Die Nachfrage nach Mehl für den Hausgebrauch (z.B. Kilo-Packungen) hat deutlich zugenommen. Im März hat sich die Nachfrage in den Coop-Läden verdreifacht», sagt Sprecherin Baiatu.
«Swissmill hat sich organisiert und sowohl die Produktionskapazität wie auch das Personal erhöht. Kurz gesagt, unsere Geschäfte können die gestiegene Nachfrage ohne Probleme bewältigen.»
«Digitales» Mehl
Bei den kleinen Produzenten sieht es aber ganz anders aus. Um die Verluste zum Teil zu kompensieren, setzt die Mühle von Maroggia jetzt auf den Online-Handel. «Die Nachfrage auf unserer Internet-Plattform ist beeindruckend», sagt Fontana.
«Das war eine Idee, die wie vor ein paar Jahren hatten, und jetzt können wir die Früchte ernten. Es schien seltsam, unsere Produkte im Netz anzubieten, da sie dort wahrscheinlich nicht gerade zu den beliebtesten gehörten. Jetzt kann ich sagen, dass es so gut läuft, wie wir uns vor einigen Monaten noch nicht vorstellen konnten.»
Die Spedition der Ware sei momentan kein Problem, denn Waren unterliegen, anders als die Menschen, bisher keinen Reisebeschränkungen. «Pakete über zehn Kilo werden von einer Logistikfirma vertrieben. Jene, die weniger wiegen, verschicken wir via Post, was allerdings einige Schwierigkeiten und Verspätungen bei der Zustellung mit sich bringt», so Fontana.
«Die Eidgenossenschaft plant mit einem Vorrat an backfähigem Getreide, der für vier Monate reichen muss.» Alessandro Fontana, Mühleninhaber
«Statt über Produktionsdruck sollten wir deshalb vielleicht eher über erste Organisationsschwierigkeiten sprechen. Denn weil sich die Art und Weise der Produktion geändert hat, müssen auch wir uns jetzt rasch an diese Veränderungen anpassen.»
Vorhandene Rohstoffe
Am Rohmaterial – backfähiges Getreide wie Weizen, Dinkel und Roggen – fehlt es nicht: «Wir verfügen über einen genügenden Vorrat, da wir jeweils zur Erntezeit im Juni und Juli eine gute Menge an Rohstoffen einkaufen. Je nach Bedürfnis kaufen wir dann im Lauf des Jahres noch dazu.» Jährlich braucht die Mühle rund 6500 Tonnen Rohmaterial.
«Zudem ist das Mehl Teil des obligatorischen Pflichtlagers, das durch Reserve SuisseExterner Link geregelt wird. Die Eidgenossenschaft plant mit einem Vorrat an backfähigem Getreide, der für vier Monate reichen muss», sagt Fontana. Im Fall der Mulino di Maroggia «gehören 1000 Tonnen unserer Vorräte theoretisch der Eidgenossenschaft».
Für jene, die sich beeilt haben, ihre Speisekammer mit backfähigem Getreide zu füllen, sei daran erinnert: Die Eidgenossenschaft verfügt in so genannten Pflichtlagern über einen Vorrat von 160’000 Tonnen Weichweizen und 23’000 Tonnen Hartweizen sowie über grosse Vorräte an Reis, Zucker, Öl und Kaffee.
Die Pflichtlager des Bundes sind nicht von der Nachfrage betroffen. Die Situation ist definitiv unter Kontrolle. Dazu kommt ein weiterer Faktor: «Fast 80% des backfähigen Getreides stammen aus der Schweiz. Unsere Bauern produzieren es, weshalb wir sagen können, dass wir nicht vom Ausland abhängig sind», so Fontana. Der Rest komme aus Kanada und Brasilien.
Coop bekräftigt: «Mehl wird noch für lange Zeit verfügbar sein. Zu gewissen Zeiten kann es im Detailhandel bei einzelnen Produkten zu kurzen Verzögerungen und Unterbrüchen in der Lieferkette kommen. Aber es herrscht kein Mangel», sagt Sprecherin Baiatu.
Sollte die Corona-Krise allerdings länger anhalten und müssten deshalb auch die Pflichtlager des Bundes angezapft werden, hat Fontana einen Lösungsvorschlag: «Mein Grossvater hat mir immer gesagt, dass man das Mehl zum Beispiel in Kriegszeiten nicht so fein gemahlen hat wie heute.» Es reiche deshalb aus, Vollkorn oder Vollkornmehl herzustellen, um bis zu 30% des gemahlenen Getreides einzusparen.
«Doch ich muss schon sagen: Ich bin bereits lange in diesem Sektor tätig, aber ich habe noch nie eine ähnliche Situation in diesem Unternehmen erlebt. Auch für uns ist dies ein aussergewöhnliches Ereignis», sagt Mühlenbetreiber Fontana.
Eier und Butter sind knapp
Um Kuchen, Süssigkeiten, Nudelteig und einige Brotsorten herzustellen, braucht man Eier und Butter. Zum ersten Mal mangelt es in den Schweizer Supermärkten nun langsam an Butter.
Der Bundesrat (Landesregierung) beruhigte die Situation, indem er beschloss, das so genannte TeilzollkontingentExterner Link zu erhöhen, sollte tatsächlich ein Buttermangel bestehen. Für die Einfuhr vieler landwirtschaftlicher Produkte ist eine Genehmigung erforderlich, und die Menge der Butter ist auf 100 Tonnen pro Jahr begrenzt. Das Bundesamt für Landwirtschaft wurde von der Regierung mit der Überwachung der Situation beauftragt.
Auch bei den Eiern präsentiert sich die Situation ähnlich: Die Schweizerinnen und Schweizer scheinen Eier zu horten. Deshalb hat die Regierung auch in diesem Fall das Teilzollkontingent erhöht. Pro Jahr dürfen 17’428 Tonnen Eier importiert werden. Es muss also niemand ohne Butter oder Eier backen oder kochen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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