Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Pandemie und Wettrüsten: Der Geldbeutel und das Leben

Marc Finaud

"Die Welt ist überbewaffnet, der Frieden unterfinanziert", sagte Ban Ki-moon, als er UNO-Generalsekretär war. Nie war dieser Befund relevanter als in diesen Zeiten der Pandemie. Leider müssen wir nun der Unterfinanzierung des Friedens die Unterfinanzierung der öffentlichen Gesundheit hinzufügen.

Die Welt ist zu Recht erschüttert über die Zahl der Opfer der Coronavirus-Pandemie, die in sechs Monaten eine halbe MillionExterner Link erreichen dürfte. Zum Vergleich: Im Durchschnitt ist die gleiche Anzahl von Todesfällen jährlich auf bewaffnete GewaltExterner Link zurückzuführen, fast 80’000 davon in Konfliktgebieten und der Rest in so genannt friedlichen Ländern, als Folge von Tötungsdelikten, Selbstmorden und Unfällen mit Schusswaffen.

“Es ist zu hoffen, dass sich die Zivilgesellschaft, die Parlamente, die Wissenschafter und Medien angesichts einer solchen Verschwendung von Ressourcen mobilisieren werden.”

Die Proteste in den USA gegen Massenschiessereien, die durch die Verfügbarkeit von Waffen erleichtert werden, und in jüngster Zeit die Protestwelle gegen rassistische Polizeigewalt sind nicht überraschend: Mehr als 37’000 MenschenExterner Link fallen in diesem Land jährlich Schüssen zum Opfer, zehn Mal mehrExterner Link als in den meisten Industrieländern.

Eine halbe Million: Dies ist auch die Zahl der Toten und Verletzten, welche die Explosion einer einzigen Atombombe, z.B. eine der 150Externer Link von den USA in fünf NATO-Ländern stationierten Bomben, innerhalb von wenigen Minuten nach sich ziehen würde. Jede dieser Bomben hat eine Zerstörungskraft, die bis zu 24 MalExterner Link so gross sein kann wie die Bombe von Hiroshima.

Mehr

Und das ist nur ein winziger Bruchteil der rund 13’000 AtomwaffenExterner Link, welche die 9 Atommächte insgesamt in ihren Arsenalen haben; die Kapazität dieser Nuklearwaffen entspricht mehr als 2000 MalExterner Link der Feuerkraft des gesamten Zweiten Weltkriegs. Ein einziges Trident-U-Boot kann das Äquivalent von 5000Externer Link Hiroshima-Bomben liefern.

Die Welt wurde in den letzten Wochen auch durch die unverständliche Entscheidung von Präsident Donald Trump erschüttert, die US-Beiträge an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mitten in einer Pandemie auszusetzen und sich danach ganz aus dieser zurückzuziehen. Diese Beiträge, sowohl Pflichtbeiträge als auch freiwillige Beiträge, beliefen sich auf 500 Millionen Dollar bei einem Jahresbudget von 4,84 Milliarden DollarExterner Link.

Gleichzeitig gab das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI bekannt, dass die globalen Militärausgaben seinen Schätzungen zufolge im Jahr 2019 ein Rekordniveau von 1917 Milliarden DollarExterner Link erreichten. Die Rechnung ist einfach: Das Budget der WHO entspricht weniger als den weltweiten Militärausgaben eines Tages!

Dem militärisch-industriellen Komplex, vor dem US-Präsident EisenhowerExterner Link am Ende seiner Amtszeit 1961 gewarnt hatte, ging es noch nie so gut. Aus Furcht vor und in Erwartung einer Neuausrichtung der Haushaltsausgaben, um Lücken im Gesundheitssystem zu stopfen, die durch die Pandemie auf grausame Weise bestätigt wurden, scheute der Komplex keine Mühe, sich neue öffentliche Mittel zu sichern.

In den USA schaffte es Boeing, ein Unternehmen, das zivile und auch militärische Güter produziert, sich 60 Milliarden DollarExterner Link aus dem vom Kongress verabschiedeten Konjunkturpaket von insgesamt 2000 Milliarden Dollar zur Bewältigung der Corona-Krise zu sichern. Und der Schusswaffenindustrie gelang es, während dem Lockdown in vielen US-Bundesstaaten als “essentielles Geschäft”Externer Link eingestuft zu werden, was den Käufern ermöglichte, ihre Arsenale noch weiter auszubauen.

In Frankreich, wo diese Lobby allmächtig ist, brauchte sie die Regierung, ihren besten Verbündeten, nicht zu überzeugen: Wie Präsident Sarkozy während der Finanzkrise von 2008, zog das Ministerium der Streitkräfte Aufträge für Luftfahrtausrüstung in Höhe von 600 Millionen EuroExterner Link vor. Kennt man den Stand des französischen Haushaltsdefizits ist klar, dass die künftigen Generationen den Preis dafür zahlen werden.

Mehr

Mehr

Wozu dient ein Waffenhandels-Vertrag?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht “Zum ersten Mal verpflichtet ein internationales, rechtlich verbindliches Instrument jene Staaten, die Waffen exportieren, zu einer Lagebeurteilung, bevor die Exporte bewilligt werden. Dabei muss eine Reihe von Kriterien eingehalten werden, die in dem Abkommen, dem WaffenhandelsvertragExterner Link (ATT), festgelegt sind”, erklärt Marc Finaud, Abrüstungsexperte im Zentrum für SicherheitspolitikExterner Link (GCSP), einer der zahlreichenExterner Link Institutionen,…

Mehr Wozu dient ein Waffenhandels-Vertrag?

Was tun gegen diese schockierenden Zahlen?

Es ist zu hoffen, dass sich die Zivilgesellschaft, die Parlamente, die Wissenschafter und Medien angesichts einer solchen Verschwendung von Ressourcen mobilisieren werden, die auf die Fähigkeit, Tod zu verursachen ausgerichtet sind statt auf Sozial- und Gesundheitsschutz.

Die Rezession, welche die meisten Länder treffen wird, sollte eine historische Gelegenheit bieten, nationale Haushalte und multilaterale Massnahmen für menschliche Sicherheit wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Es ist bekanntExterner Link, dass eine Erhöhung der Militärausgaben um 1% im Allgemeinen zu einem Rückgang der Gesundheitsausgaben um 0,6% bis 1% führt. Dieser Trend muss umgekehrt werden.

So genannte Desinvestitions-Initiativen haben in Verbindung mit einem internationalen Vertrag bereits dazu geführt, dass die Produktion von StreubombenExterner Link praktisch eingestellt wurde. In ähnlicher Weise zogen mehrere Grossbanken oder Pensionsfonds ihre Investitionen aus der Produktion von NuklearwaffenExterner Link zurück, wie es andere zum Schutz des Klimas mit fossilen Brennstoffen taten.

Diese Bewegung sollte mit dem bevorstehenden Inkrafttreten des Vertrags über das Verbot von Atomwaffen noch zunehmen. Ein Artikel dieses Vertrags verbietet die Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Herstellung von Kernwaffen. Eine von Papst FranziskusExterner Link unterstützte Initiative der SOAS University of LondonExterner Link, fordert zudem, Produktion und Export von Waffen einzufrieren, und die damit frei werdenden Mittel auf Gesundheit und Entwicklung umzulenken.

Zu dieser Mobilisierung muss auch der Druck zur Einhaltung und Aufrechterhaltung der bilateralen und multilateralen Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen gehören, welche die Vereinigten Staaten ab 2002 begonnen haben, zu demontieren: ABM-Vertrag, Atomabkommen mit dem Iran, INF-Vertrag, Vertrag über den Waffenhandel, Vertrag über militärische Beobachtungsflüge (“Open Skies”), während der Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen (New START) im Februar 2021 auslaufen wird und Trump mit der Wiederaufnahme von Atomtests droht.

Und über diese Abkommen hinaus müssen wir auch die gefährliche Entwicklung der Doktrinen und der Rüstungsgüter aller Atommächte anprangern, die dazu neigt, die Schwelle für einen Einsatz von Atomwaffen zu senken und die Welt in einen wilden Wettlauf in Richtung Katastrophe zu treiben.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft