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Supraleiter bei Raumtemperatur: Blosser Hype oder reale Hoffnung?

Die Suche nach Materialien, die bei Raumtemperatur supraleitend sind, war noch nie so intensiv wie heute. Dirk van der Marel, ein Schweizer Physiker, der viele vermeintliche Supraleiter als unbrauchbar entlarvt hat, erklärt, wo wir bei der Suche nach dem "heiligen Gral" der Physik stehen.

Im Mittelpunkt des Films Avatar (2009) steht der Konflikt um die schwebenden Berge von Pandora, die Unobtanium enthalten, einen bei Raumtemperatur äusserst wertvollen Supraleiter.

Obwohl der Film fiktiv ist, beschreibt er die Suche von Physiker:innen nach einem Material, das bei Raumtemperatur supraleitend ist und theoretisch unendlich viel Energie liefern könnte.

Ein solcher Supraleiter könnte zu Durchbrüchen in der medizinischen Bildgebung, bei schwebenden Zügen, Elektrofahrzeugen und Quantencomputern und vielen anderen Anwendungen führen.

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Im Gegensatz zu herkömmlichen Materialien wie Gold oder Platin leiten Supraleiter elektrische Ströme ohne Widerstand, das heisst, es geht keine Energie in Form von Wärme verloren. Bisher haben alle von der Wissenschaft identifizierten supraleitenden Materialien diese Eigenschaften nur bei extrem tiefen Temperaturen und bei extrem hohem Druck gezeigt. Das schränkt ihre Anwendungsmöglichkeiten stark ein.

Im Juli 2023 erregte die Behauptung südkoreanischer ForscherExterner Link, sie hätten einen Raumtemperatur-Supraleiter namens LK-99 geschaffen, weltweites Aufsehen. (LK-99 ist ein polykristallines Material aus Kupfer, Blei, Sauerstoff und Phosphor).

Doch Mitte August berichtete die Zeitschrift Nature, dass Wissenschaftler LK-99 als Raumtemperatur-Supraleiter widerlegt hätten. Letzte Woche zog Nature auch eine VeröffentlichungExterner Link zurück, in der die Entdeckung eines Raumtemperatur-Supraleiters behauptet wurde, nachdem eine ähnliche Veröffentlichung bereits 2022 zurückgezogen worden war.

Die berühmtesten Entdeckungen der Supraleitung bei Raumtemperatur in der Geschichte der Physik, die nicht bewiesen werden können:

JahrAutor:innenResultate
1987Oguishi et al. aus JapanNicht bestätigt
2003Johan Prins aus den USANicht bestätigt
2012Scheike et al. Aus DeutschlandNicht bestätigt
2018Kumar et al. aus IndienIn Frage gestellte Daten
2020Dias et al. aus den USAZurückgezogen
2023Dias et al. aus den USAZurückgezogen
2023Koreanisches TeamNicht bestätigt

Dirk van der Marel, emeritierter Physikprofessor der Universität Genf, gehörte zu den führenden Wissenschaftler:innen, die die Forschung hinter der 2022 von Nature zurückgezogenen Arbeit in Frage stellten. Der Genfer Physiker sprach mit SWI swissinfo.ch darüber, wie man im Rennen um einen Raumtemperatur-Supraleiter zwischen Hype und Hoffnung differenzieren kann.

SWI: Warum hat LK-99 die Schlagzeilen in den Medien beherrscht und so viel Aufsehen erregt?

Dirk van der Marel: Ich denke, dass die aussergewöhnliche Behauptung der Wissenschaftler in Südkorea die Erwartungen der Öffentlichkeit an eine weitere neue Technologie nach ChatGPT erfüllt hat.

Wie hat die Schweizer Physikgemeinde auf die Entdeckung von LK-99 reagiert?

Wir haben ihre Entdeckung sofort in Frage gestellt, als wir davon hörten, und es gab sogar einen unausgesprochenen Konsens in der Schweizer Physikgemeinde, dass wir keine Zeit damit verschwenden würden, die Details zu untersuchen oder zu versuchen, LK-99 zu replizieren, trotz mehrerer Replikationsversuche weltweit.

Der Grund dafür war, dass die theoretischen Erklärungen der möglichen Mechanismen der Supraleitung in LK-99 im wissenschaftlichen Manuskript unvollständig waren – man kann es leider nicht einmal als Paper bezeichnen.

Das südkoreanische Forscher:innenteam hat seine Entdeckung auf die Open-Access-Website arXiv hochgeladen. Es ist allerdings kein gutes Zeichen, wenn ein Vorabdruck, der nicht von Fachkolleg:innen begutachtet wurde, von der akademischen Gemeinschaft und der Öffentlichkeit so begeistert aufgenommen wird. Denn Peer-Review ist wie ein intellektueller Pförtner, ein sehr wichtiges Verfahren zur Validierung wissenschaftlicher Arbeiten, das unweigerlich ungültige oder minderwertige Artikel herausfiltert. Trotz Mängeln und Kritik gilt es nach wie vor als Goldstandard für wissenschaftliche Glaubwürdigkeit.

Angenommen, es käme tatsächlich zu einer Entdeckung. Wie würde unser Leben mit Supraleitern bei Raumtemperatur aussehen?

Nehmen Sie mich als Beispiel: Ich bin heute mit einem Elektroauto hierhergekommen, das schon ziemlich energieeffizient ist. Aber Raumtemperatur-Supraleiter könnten eine neue Ära für Elektrofahrzeuge einläuten, mit schnelleren Ladezeiten, grösseren Reichweiten, leistungsfähigeren Motoren und dem Potenzial für einen breiteren gesellschaftlichen Wandel hin zu einem saubereren Verkehr.

Angesichts der in letzter Zeit stark gestiegenen Strompreise in der Schweiz würde meine Stromrechnung dank eines effizienteren Stromnetzes und geringerer Stromverluste bei Transport und Verteilung günstiger ausfallen.

Für meine Forschung würde die Entdeckung eines Supraleiters auch leistungsfähigere Teilchenbeschleuniger ermöglichen und die Kernfusionsexperimente voranbringen.

SWI: Welches sind die größten Hindernisse, die wir überwinden müssten, um Raumtemperatursupraleiter auf breiter Basis einzusetzen?

Es ist sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Verwirklichung einer vielversprechenden Zukunft davon abhängt, ob es uns gelingt, die damit verbundenen Probleme der Materialbeschränkungen oder der Anwendbarkeit zu lösen.

Im Gegensatz zu Gold oder Silber ist ein bei Raumtemperatur supraleitendes Material extrem spröde. Eine der naheliegendsten Anwendungen ist das Energienetz. Ein supraleitendes Material, das im Energienetz verwendet wird, müsste in Massenproduktion hergestellt werden und witterungs- und korrosionsbeständig sein, um nützlich zu sein, da die meisten Übertragungsleitungen im Freien verlaufen und den Elementen ausgesetzt sind.

Eine weitere Voraussetzung, die nicht vernachlässigt werden darf, ist die Frage, ob das bei Raumtemperatur supraleitende Material in Massenproduktion wirtschaftlich hergestellt werden kann. Wir werden doch kein Auto aus Gold bauen, oder?

Zweifellos liegt noch ein sehr langer Weg vor uns.

SWI: Inmitten des weltweiten Wettlaufs um die Entdeckung von Materialien, die bei Raumtemperatur supraleitend sind, haben wir aus der Schweiz keine Nachrichten über bedeutende Fortschritte auf diesem Gebiet gehört. Woran liegt das?

Für die Forscher:innen bedeutet Schweigen und Diskretion nicht, nichts zu tun. Meines Wissens gibt es in der Schweiz mindestens drei Forschungsgruppen, die an der Entwicklung supraleitender Materialien arbeiten. Sie reden nur nicht ständig mit der Presse und wecken keine unrealistischen Erwartungen.

Das wirklich Interessante an der Welt der Wissenschaft ist das Schaffen von etwas, das völlig anders ist als das, was die wissenschaftliche Gemeinschaft erwartet.

In diesem Sinne wurde die wichtigste Entdeckung auf dem Gebiet der Supraleitung in der Schweiz gemacht. 1986 entdeckten der Schweizer Physiker K. Alex Müller und sein Kollege, der deutsche Physiker Georg Bednorz, am IBM-Forschungslabor in Zürich erstmals die Hochtemperatur-Supraleitung in Keramiken.

Sie hatten eine äusserst originelle Idee, die der gängigen Theorie völlig widersprach. Mit anderen Worten: Sie schufen ihre eigene theoretische Idee, die sie auf ihre Weise formulierten, indem sie systematisch verschiedene Materialien untersuchten, von denen niemand sonst glaubte, dass sie jemals supraleitend werden könnten.

Dies war der Beginn einer explosionsartigen Entwicklung, in deren Verlauf Hunderte von Labors auf der ganzen Welt an ähnlichen Materialien arbeiteten.

Editiert von: Sabrina Weiss/Veronica DeVore. Übertragung aus dem Englischen: Melanie Eichenberger

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