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“Die Neutralität hat für die Schweiz eine beschränkte Bedeutung”

Georg Kreis

Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine wird das Neutralitätsverständnis in der Schweiz infrage gestellt. Laut Historiker Georg Kreis bietet die Debatte eine Gelegenheit, idealisierte Neutralitätsvorstellungen der Realität anzupassen.

Bis vor kurzem wurde die Neutralität nur in affirmativer Weise zur Bestätigung einer essenziellen Staatsmaxime der Schweiz erörtert. Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine und damit auch auf ganz Europa und die Welt des freien Westens änderte dies. Jetzt wird das bisherige Neutralitätsverständnis stark infrage gestellt.

Was können und sollen Historiker in der aktuellen Neutralitätsdebatte an spezifischen Einsichten zur Verfügung stellen? Sie können aufzeigen, dass in der Vergangenheit unterschiedlich über Neutralität geredet und geschrieben und, was eigentlich fast noch wichtiger ist, dass die Neutralität auch im aussenpolitischen Handeln unterschiedlich beachtet und angewandt wurde.

Das sind insofern klärende, ja aufklärende Beiträge, als sie dogmatische Neutralitätsvorstellungen relativieren. Es mag paradox erscheinen: Gerade diese Relativierungen geben aber zu verstehen, dass das Thema durchaus ernst genommen werden muss.

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“Wir müssen die Schweizer Neutralität überdenken”

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Schweizer Historiker:innen verkennen die Bedeutung der Neutralität für die Aussenpolitik aus politischen Gründen, schreibt Christophe Farquet.

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Als Historiker kann man darauf Aufmerksam machen, dass die der Aussenpolitik zugeordneten Neutralität lange Zeit auch eine wichtige innenpolitische Funktion hatte. Im 17. Jahrhundert, das heisst in den konfessionell geprägten internationalen Auseinandersetzungen des Dreissigjährigen Krieges erlangte sie Bedeutung, als der Zusammenhalt der konfessionell gemischten Eidgenossenschaft bedroht war.

1914 musste die Neutralität eindringlich in Erinnerung gerufen werden, als Exponenten der beiden grossen Landesteile im einen Fall mit der deutschen, im anderen Fall mit der französischen Kriegspartei hemmungslos sympathisierten. Im Gegensatz zu diesen Zeiten dürfte von der Neutralität in unserer Zeit kaum eine Art Kohäsionsschutz ausgehen. Die anstehende Neutralitäts-Initiative wird das Land eher spalten als einen.

Als Historiker kann man zeigen, dass die Schweiz mit ihrer Neutralität in einem stark andersartigen Umfeld ein Alleinstellungsmerkmal (unique selling point) pflegen konnte und diese Abgrenzung jedoch in dem Masse fraglich bis hinfällig wurde, als die Staatengemeinschaft zu einem multilateralen Verband ähnlicher Mitglieder wurde, nicht nur mit der Gründung des Völkerbunds und der nachfolgenden UNO, sondern mit anderen internationalen Organisationen vor 1914 und nach 1945.

Beim wichtigen Entscheid vom Mai 1992 über die Mitwirkung im Internationalen Währungsfonds (IWF, Washington) spielte die Neutralität keine Rolle. Zuvor war die Schweiz – durch die Neutralität begünstigt, aber nicht determiniert – schon im 19. Jahrhundert zum Sitz solcher Organisationen gewählt worden, etwa für den Weltpostverein, 1919 wurde Genf Domizil des Völkerbunds, 1930 Basel Sitz der BIZ etc.

Nicht nur als Historiker, aber auch als Historiker kann man an die Adresse derjenigen, welche aus Traditionalismus die Neutralität hochhalten wollen, daran erinnern, dass 1848 bei der Gründung der modernen Schweiz bewusst davon abgesehen wurde, der Neutralität einen eigenen Artikel in der Bundesverfassung zu geben. Im Mai 1848 kam zwar von einer kleinen Gruppe von Kantonen der Vorschlag, die Verteidigung der Neutralität als zusätzlichen Bundeszweck aufzuführen. Dies wurde aber von einer Mehrheit mit der Begründung abgelehnt, die Neutralität sei bloss Mittel zum Zweck, die Eidgenossenschaft müsse sich das Recht vorbehalten, unter gewissen Umständen, sofern sie es für zuträglich erachte, aus ihrer neutralen Stellung heraustreten.

Als Historiker weiss man, dass lange Zeit (1817 bis circa 1990) ein sich gegenseitig bestätigendes Wechselverhältnis zwischen Neutralität und autonomer Verteidigungsfähigkeit bestand. Damit Neutralität glaubwürdig war, musste sie bewaffnet, das heisst durch eine starke Bundesarmee vor Übergriffen fremder Mächte geschützt sein.

Andererseits konnten die Kosten für die militärische Alleingangverteidigung unter Berufung auf die Neutralitätspflicht zusätzlich gerechtfertigt werden. In dem Masse aber, als seit 1990 in der Armee die Einsicht Fuss fasste, dass die Schweiz bei der Gewährleistung der militärischen Sicherheit auf die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern des Auslands angewiesen ist, rückten Armeeverantwortliche von der zuvor überhöhten Berufung auf die Neutralität ab.

Als Historiker kann man bewusst machen, dass die Neutralitätspolitik einen nicht zu unterschätzenden Gestaltungsspielraum hat, der im Laufe der Zeit entsprechend unterschiedlich genutzt wurde. Das zeigen etwa die schweizerischen Haltungen, als sie 1947/48 ohne Bedenken dem von den USA lancierten Marshallplan beitrat, aber dem 1949 gegründeten Europarat unter Berufung auf die Neutralität fernblieb.

Nach 1945 wurde während vier Jahrzehnten die UNO-Mitgliedschaft als unvereinbar mit der Neutralität verstanden und schliesslich der Antrag auf eine UNO-Mitgliedschaft doch damit gerechtfertigt, dass man “drinnen” die Neutralität besser verteidigen könne als “daussen”. Dabei begnügte sich die Schweiz mit einer einseitigen Neutralitätserklärung, nachdem sie zuvor eine ausdrückliche Anerkennung von der Gegenseite erwartet hatte.

Als Historiker kann man aufzeigen, dass die Neutralität, wie sehr sie im Selbstverständnis als verbindlich eingestuft wird, nur so viel wert ist, als Akteure der internationalen Szene sie zu respektieren bereit sind. Als Schlüsselphase, die den Wert der Neutralität belegen soll, werden gerne die Jahre 1939-1945 beigezogen.

Neben anderen, wichtigeren Faktoren (vor allem der Bedeutung des Finanzplatzes) hat der neutrale Status der Schweiz sicher möglich gemacht, ohne Annexion über die Runden zu kommen. Doch wäre die neutrale Schweiz nur schon in Europa an anderem Ort gelegen gewesen wie das neutrale Belgien oder die neutralen Niederlande, sie wäre trotz ihrer Neutralitätserklärung bei Kriegsbeginn und sogar deren anerkennenden Entgegennahme nicht von einer Eroberung verschont geblieben.

Als Historiker kann man schliesslich darlegen, dass bereits seit einem halben Jahrhundert das vorherrschende Neutralitätsverständnis von ernst zu nehmender Seite als überholt eingestuft wurde.

1974 bemängelte der Zürcher Politologe Daniel Frei, Rekrutenbefragungen hätten gezeigt, dass die Neutralität eine im Zuge des politischen Sozialisierungsprozesses unreflektiert übernommene Einstellungsnorm sei, die eine isolationistische Distanzierung von der Umwelt bewirke.

Offensichtlich besteht ein problematisches Verhältnis zwischen der überhöhten Neutralitätsvorstellungen und, wie historisch belegt, beschränkten Bedeutung der Neutralität in der schweizerischen Aussenpolitik. Die aktuelle Debatte bietet Gelegenheit, das ideologische Verständnis unaufgeregt näher an die Realität zu rücken. Es wäre an der Zeit.

Georg Kreis, em. Prof. für Geschichte der Universität Basel, Autor mehrerer Schriften zum Thema, etwa: Kleine Neutralitätsgeschichte der Gegenwart. Ein Inventar zum neutralitätspolitischen Diskurs in der Schweiz seit 1943. Bern 2004. – Die Schweizer Neutralität. Beibehalten, umgestalten oder doch abschaffen? Zürich 2007.

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