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Unterbesetzt und überlastet: So geht es den Ärzt:innen in der Schweiz

Ein Arzt in einem Spitalgang
Eine kurze Verschnaufpause im Universitätsspital Lausanne. © Keystone / Gaetan Bally

Eine Umfrage unter den Schweizer Ärztinnen und Ärzten bestätigt den Trend: Mehr Stress, längere Wartezeiten für Patient:innen und wachsende Sorge über Personalmangel.

Die Schweiz hat eines der besten – und teuersten – Gesundheitssysteme der Welt. Doch auch dieses stösst an seine Grenzen, insbesondere angesichts einer wachsenden und alternden Bevölkerung. Wie geht die Ärzteschaft mit dem Druck um? Das Forschungsinstitut gfs.bern hat im Auftrag der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) 1’700 von ihnen befragtExterner Link. Hier sind einige der wichtigsten Ergebnisse.

Ein “dramatischer” Mangel in der Schweiz?

Rund zwei Drittel der befragten Ärztinnen und Ärzte – in der Psychiatrie sogar 73% – bezeichnen den Fachkräftemangel als “eher gravierend” oder “sehr gravierend”, mit steigender Tendenz. Nach einem Jahrzehnt der Stabilität (die Umfrage wird seit 2011 jährlich durchgeführt) ist die Situation seit 2020 von zwei Tendenzen geprägt: Einerseits sagen die Befragten, dass die Rekrutierung schwieriger wird, andererseits befürchten sie zunehmend, dass es in den Spitälern und Kliniken nicht mehr genügend Personal gibt, um eine angemessene Versorgung zu gewährleisten.

In einer Medienmitteilung erklärte die FMH diese Woche, dass in der Schweiz derzeit rund 5000  Ärztinnen und Ärzte und etwa 15’000 Pflegefachpersonen fehlen. Und obwohl das Bildungssystem darauf abzielt, jedes Jahr 1300 neu qualifizierte Ärztinnen und Ärzte auszubilden, sind die Mediziner:innen der Meinung, dass dies nicht ausreicht, insbesondere angesichts der sich abzeichnenden Pensionierungswelle: Mehr als ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz ist heute über 60 Jahre alt. Anfang dieses Monats sprach FMH-Direktorin Yvonne Gilli von einer “dramatischen” Situation, die sich abzeichne.

Die Spitäler sind stark auf ausländisches medizinisches Personal angewiesen

Aber ist das ein weiteres Luxusproblem der Schweiz? Auf dem Papier sieht die Situation – zumindest im Moment – gar nicht so schlecht aus. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECDExterner Link lag die Schweiz im Jahr 2021 mit 4,4 Ärztinnen und Ärzten pro 1000 Einwohner:innen am oberen Ende der Skala der entwickelten Länder. Bei den Krankenpfleger:innen weist die Schweiz mit 18,4 pro 1000 Einwohner nach Finnland die zweithöchste Dichte der Welt auf.

Um diese Situation aufrechtzuerhalten – angesichts einer alternden Bevölkerung und der bevorstehenden Pensionierungswelle – ist sie jedoch auf Einwanderer und Einwadererinnen sowie Grenzgänger:innen angewiesen. Fast vierzig Prozent der Ärzteschaft kommt aus dem Ausland, etwas mehr als die Hälfte von ihnen aus Deutschland. Neben der Abhängigkeit wirft dies auch moralische Fragen auf, sagte Jana Siroka von der FMH gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung: “Wir können unsere Löcher nicht ewig mit Arbeitskräften aus dem Ausland stopfen; eine solche Abwerbung mit höheren Löhnen ist unethisch”, sagte sie.

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Gestresst, überlastet – und die Nase voll

Etwa 83% der Ärztinnen und Ärzte in der Akutversorgung geben an, dass sich der Personalmangel negativ auf ihre physische und psychische Gesundheit auswirkt. Fast 70% berichten, dass Kolleg:innen aufgrund von Stress gekündigt haben. Und zwischen 11% (bei den Akut-) und 25% (bei den Allgemeinmediziner:innen) geben an, dass sie den Beruf in den nächsten Jahren aufgeben wollen; während die meisten der Letzteren auf Pensionierungen zurückzuführen sind, sind viele der Ersteren auf die hohe Arbeitsbelastung und die langen Arbeitszeiten zurückzuführen.

In der Umfrage wurde zwar nicht nach der genauen Arbeitszeit gefragt, aber überlange Arbeitstage sind in der Branche keine Seltenheit; eine UmfrageExterner Link aus dem Jahr 2020 ergab, dass mehr als die Hälfte der Ärzteschaft länger als die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 50 Stunden pro Woche arbeitet. Die Umfrage von gfs.bern bestätigt jedoch, dass die administrative Arbeit eine zunehmende Belastung darstellt: Die tägliche Zeit, die für Papierkram und andere Aufgaben aufgewendet wird, hat in den letzten zehn Jahren um 25 Minuten auf 2,5 Stunden zugenommen.

Die Patient:innen werden gut versorgt, warten aber länger

Die Patient:innen können sich zwar über steigende Krankenkassenprämien beklagen, aber das Schweizer Gesundheitssystem selbst ist immer noch eines der besten der Welt. Die befragten Ärztinnen und Ärzte bestätigen dies weitgehend; auch das Fachwissen und die medizinische Ausrüstung seien erstklassig, sagen sie. Allerdings steigt die Zahl derer, die sich Sorgen um die Qualität machen, leicht an und hat im Bereich der Psychiatrie deutlich zugenommen, wo die Zahl der Mediziner:innen, die die Qualität als “gut” oder “sehr gut” bezeichnen, von 78% im Jahr 2020 auf 57% im Jahr 2023 gesunken ist.

Auch die Wartezeiten werden länger: 74% der Akut- bestätigen dies, ebenso wie 70% der Allgemeinmediziner:innen und 8% der Psychiater:innen. Vor allem in Krankenhäusern nehmen die Wartezeiten zu. Für Akut- und Rehabilitationsbehandlungen erhalten die Patient:innen in der Regel innerhalb eines Monats einen Termin; ein Termin für eine psychiatrische Behandlung kann länger dauern. Mediziner:innen sagen inzwischen, dass sich solche Wartezeiten auf die Genesungszeit auswirken können, dass sie aber nur selten zu einer Nicht-Genesung führen.

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Lösungen sind schwer zu finden

In der gfs.bern-Umfrage wurde nicht näher darauf eingegangen, was getan werden könnte, um die Probleme zu lösen. Eine grosse Reform des Schweizer Gesundheitssystems in den letzten Jahren wird jedoch weitgehend positiv beurteilt: die 2019 angestrebte Stärkung des ambulanten Bereichs und die Entlastung des stationären Bereichs. Weniger erfreut sind die Befragten jedoch über diese Reform, wenn es darum geht, sich mögliche Auswirkungen auf ihren eigenen Fachbereich vorzustellen.

An anderer Stelle setzt sich die FMH weiterhin für mehr Investitionen in die Ausbildung von mehr Ärztinnen und Ärzten ein, sowohl im hausärztlichen als auch im fachärztlichen Bereich. Dies sei aber kein Patentrezept. “Eine Verringerung des Verwaltungsaufwands und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind vorrangig”, sagte FMH-Vizepräsident Philippe Eggimann diese Woche gegenüber der Zeitung Le Temps. Eggimann forderte auch eine stärkere gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit der Ärzteschaft, um der Behauptung entgegenzuwirken, sie sei für die steigenden Gesundheitskosten im Allgemeinen verantwortlich.

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Übersetzung aus dem Englischen: Giannis Mavris

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