Ja zur Pflegeinitiative: Die Schweiz fällt einen historischen Entscheid
Die Schweiz sagt heute wuchtig Ja zur Pflegeinitiative. Es ist das erste Mal, dass ein Volksbegehren aus Gewerkschaftskreisen angenommen wird. Bei der Umsetzung indes ist ein Lohnstreit absehbar.
- Die Pflegeinitiative geht als 24. angenommenes Volksbegehren in die Schweizer Demokratiegeschichte ein. 61 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger und – mit Ausnahme von Appenzell Innerrhoden – auch sämtliche Kantone stimmten Ja.
- Als Konsequenz der Initiative wird ein neuer Verfassungsartikel geschaffen, der die Situation in den Pflegeberufen verbessern soll. Die Schweiz bildet heute zu wenig Pflegepersonal aus und verzeichnet eine hohe Austrittsquote – über 40 Prozent verlassen den Beruf vorzeitig.
- Die 2017 vom Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) lancierte Initiative verlangt eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegenden in Alterszentren, Spitälern sowie der Spitex (die Leistungen zu Hause erbringt).
- Der Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments hatten einen Gegenvorschlag unterstützt, der Teile der Initiative sofort aufgegriffen und in Kraft gesetzt hätte. Er ist nun obsolet.
- Das Parlament hat vier Jahre Zeit, um einen Gesetzesartikel für die Umsetzung der Initiative zu erlassen. Schon früher, nämlich innerhalb der nächsten eineinhalb Jahre, muss der Bundesrat etwas gegen den Mangel an Pflegefachkräften unternehmen, das schreibt der Initiativtext vor.
Keine Frage, die Schweiz hat ein deutliches Zeichen der Solidarität gesetzt. 61 Prozent der Abstimmenden haben die Pflegeinitiative befürwortet. Der Entscheid hat historische Dimensionen: Fast 10 Jahre ist es her, seit mit der Zweitwohnungsinitiative zum letzten Mal ein von linken Kreisen lanciertes Volksbegehren eine Mehrheit fand. Und gerade arbeitsrechtliche Themen haben es schwer in der liberalen Schweiz, die zum Beispiel im Jahr 2012 eine Erhöhung von 4 auf 6 Wochen Ferien an der Urne klar zurückwies – zur Verwunderung vieler ausländischer Beobachter. Tatsächlich ist die Pflegeinitiative die erste Initiative aus Gewerkschaftskreisen, die eine Mehrheit gefunden hat.
Der Covid-Effekt
Die 2017 vom Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner lancierte Vorlage hat das Momentum nutzen können. Die Covid-Pandemie hat in den letzten zwei Jahren die Bedeutung der Pflege für die Gesundheitsversorgung ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Auch ein Gegenvorschlag, der vergleichsweise viele Anliegen aufgenommen und eine Investition von einer Milliarde Franken in die Ausbildung von Pflegenden beinhaltet hätte, blieb neben der Initiative chancenlos.
Für die Umsetzung – konkret, die Erarbeitung der nötigen Gesetzesvorlage – hat das Parlament nun vier Jahre Zeit. Der Bundesrat ist durch den Initiativtext verpflichtet, seinerseits schon vorher Massnahmen zu ergreifen. Dieser Passus gilt als umstritten, zumal die Gesundheitspolitik in der Schweiz nicht zentral gesteuert wird, sondern über die Kantone erfolgt.
Jubel und Prämiensorgen
SP-Co-Präsident Cédric Wermuth sprach am Sonntagnachmittag in «Blick-TV» von einem Freudentag für seine Sozialdemokratische Partei und wertete die erstmalige Annahme einer gewerkschaftlichen Initiative in der Schweiz als Zeichen einer «Zeitenwende». Das Argument, das Resultat sei vor allem den Umständen, also der Corona-Pandemie, zu verdanken, wies er zurück. Die Notwendigkeit, die Pflegeberufe aufzuwerten, sei weitherum anerkannt.
Das bestätigte auch Thierry Burkart, Präsident der liberalen FDP. Er hätte zwar den Gegenvorschlag vorgezogen, sagte er, «das wäre schneller gegangen». Teile davon könnten aber für den Gesetzgebungsprozess verwendet werden. Ähnlich argumentierte in derselben Runde Marco Chiesa, Präsident der rechtskonservativen SVP. Er warnte ausserdem vor steigenden Kosten. Mitte-Präsident Gerhard Pfister sagte, der Volkswille sei zu respektieren, auch er schloss nicht aus, auf dem Gegenvorschlag aufzubauen.
Bereits am Nachmittag hatte die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) verlauten lassen, man wolle bei der Umsetzung der Pflegeinitiative auf dem indirekten Gegenvorschlag aufbauen. Zusätzlich seien nun Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen gefragt, etwa zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Der Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) wertete das Resultat als «unglaubliches Zeichen der Wertschätzung». SBK-Geschäftsführerin Yvonne Ribi widersprach zudem dem Vorwurf, Vorgaben des Bundes zu Arbeitsbedingungen und Löhnen schwächten die Sozialpartnerschaft.
Der Krankenkassenverband Santésuisse teilte mit, man unterstütze die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen in der Pflege. Was die Kosten angeht, nimmt der Verband die Initiatinnen und Initianten aber in die Pflicht: Diese hätten im Abstimmungskampf ein Kostenwachstum in Abrede gestellt – und man werde sie daran erinnern. Für Santésuisse sei entscheidend, dass die Prämienlast nicht weiter zunehme.
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Die Frage der Löhne
Reizthema bei der Umsetzung dürfte tatsächlich die Lohnfrage werden. Die Lohnzufriedenheit bei den Pflegenden in der Schweiz so tief wie in praktisch keiner anderen Branche, wie Umfragen zeigen. Das Bild ist aber sehr uneinheitlich, je nach Abschlüssen, Tätigkeit, Institution und Kanton variieren die Jahreseinkommen zwischen 75’000 und 145’000 Franken.
Im internationalen Vergleich zahlt die Schweiz hohe Löhne und konnte deshalb die Ausbildungslücken mit ausländischem Personal bisher kompensieren. Die Schweiz fällt aber zurück, wenn man die Pflegeeinkommen mit inländischen Kennzahlen wie Durchschnitts- oder Medianlöhnen vergleicht. Gut belegt sind auch die Probleme in der Lohnentwicklung: Während Pflegefachleute mit tertiärer Ausbildung im Vergleich zu anderen Gruppen mit vergleichbarem Bildungsrucksack bei Berufseintritt gut verdienen, fallen sie über die Jahre in der Rangliste zurück.
Die Initiantinnen und Initianten haben im Abstimmungskampf gezielt versucht, die Lohndiskussion zu marginalisieren. Im Zentrum stünden die Arbeitsbelastung und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, hier seien Nachbesserungen nötig, betonten sie. Mit durchschnittlich acht Patientinnen und Patienten pro Pflegefachperson rangiert die Schweiz im Mittelfeld der Länder mit ausgebautem Gesundheitssystem, allerdings ist ein Vergleich schwierig, weil die Kompetenzen und die Abschlüsse über die Länder hinweg variieren.
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Konkrete Forderung hatte noch im Abstimmungskampf die Gewerkschaft VPOD vorgetragen: Sie verlangte unter anderem 10 Prozent mehr Lohn sowie die 36-Stunden-Woche. Eine Vorgabe, von der sich die Initiantinnen und Initianten allerdings distanzierten. Auch hier sind Richtungsdiskussionen in den nächsten Jahren programmiert.
Die Solidarität mit den Pflegenden dürfte indes noch eine Weile anhalten – und für die Diskussionen im Parlament eine gute Grundlage schaffen. Umsonst ist das für die Pflegenden allerdings nicht. Treiber der Solidarität bleibt die Covid-19-Pandemie, deren neue Welle gerade über die Schweiz hereinbricht.
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