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Der Schweizer, der die Hilferufe der Pflanzen entschlüsselt hat

ein Mann in einem Gewächshaus mit Maissetzlingen
Ted Turlings, Professor für chemische Ökologie an der Universität Neuenburg, hat den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist 2023 erhalten. Daniel Rihs / 13 Photo

Pflanzen können sich gegen Schädlinge verteidigen, indem ihnen natürliche Verbündete zu Hilfe eilen. Das entdeckte Ted Turlings 1990. Anfänglich stiess er auf Skepsis, doch inzwischen gilt seine Forschung als bahnbrechend. Ende letzten Jahres wurde Turlings dafür mit dem Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist 2023Externer Link ausgezeichnet, der als "Schweizer Nobelpreis" gilt. SWI swissinfo.ch hat ihn in seinem Labor an der Uni Neuenburg getroffen.

Ted Turlings hält seine Nase an die Öffnung einer Glasflasche. In deren Inneren befindet sich eine kleine Maispflanze mit beschädigten Blättern und eine dunkel gefärbten Raupe.

“Dieser Geruch ist typisch”, sagt der Biologe. Es riecht wie eine Kombination aus frisch gemähtem Gras und Heu. Und genau dieser Geruchsstoff wird laut Ted Turlings freigesetzt, wenn die Maispflanze von einem Schädling befallen wird.

Im Laufe der Jahre hat der Biologe gelernt, die vom Mais freigesetzten flüchtigen Verbindungen am Geruch zu erkennen. Er ist zu einem der weltweit führenden Experten für die Wechselwirkungen zwischen pflanzlichen und tierischen Organismen und damit der biologischen Bekämpfung von Schadorganismen geworden.

Als SWI swissinfo.ch Ted Turlings in seinem Labor an der Universität Neuenburg in der Westschweiz besucht, prüft er gerade die Messgeräte seiner Forschungsgruppe.

Sechs Maiskeimlinge in Glasglocken sind durch Teflonschläuche miteinander verbunden. Ein Gerät fängt die Geruchsmoleküle ein, welche die Pflanzen in die Luft abgeben.

“Diese Stoffe locken den natürlichen Feind der Raupe an – für die Pflanze ist das eine Form der Verteidigung”, erklärt Kathrin Altermatt, die die Beobachtungen Turlings im Labor zusammen mit anderen Doktoranden und Masterstudenten weiterführt.

Mission noch lange nicht beendet

Mit 64 Jahren nähert sich der Professor dem offiziellen Rentenalter. Doch er hegt keine Absichten, seine beruflichen Tätigkeiten einzustellen. Ganz im Gegenteil: Er bereitet sich auf eine neue Phase in seinem Berufsleben vor. Er will seine Forschungen über die Abwehrmechanismen von Maispflanzen in die Praxis umsetzen und wirksame sowie kostengünstige Lösungen gegen Schadinsekten entwickeln, die weltweit bis zu 40 Prozent der landwirtschaftlichen Ernten vernichtenExterner Link.

Glasgefässe mit Maiskeimlingen darin
Von der Raupe befallene Maiskeimlinge setzen flüchtige Verbindungen frei, die Turings Team eingefängt und analysiert. swissinfo.ch

Der Feind des Feindes ist dein Freund

Ted Turlings arbeitet an einem Geruchssensor, der in Echtzeit die flüchtigen Verbindungen erkennen kann, die von der von Raupen befallenen Maispflanze produziert wird. Diese organischen Verbindungen locken parasitische Wespen an, die ihre Eier in den Körper der Raupe legen. Wenn sie heranwachsen, fressen die Wespenlarven die Raupe von innen auf und töten sie.

“Die Pflanze verteidigt sich also, indem sie einen Feind ihres Feindes zu Hilfe ruft”, bringt es Turlings auf den Punkt.

Er hat vor, den Sensor an einer landwirtschaftlichen Maschine oder an einem Roboter zu installieren, die sich in den Maisfeldern bewegen. Das Gerät wäre dann in der Lage, die Maisproduzent:innen zu warnen, dass ihre Ernte gefährdet ist, noch bevor Schädlingsschäden überhaupt sichtbar werden, erklärt Turlings.

Der vielversprechendste Sensor ist derzeit noch zu gross und zu teuer für einen grossflächigen Einsatz in Entwicklungsländern. Er kostet mindestens 300’000 Franken. Ein Unternehmen im Kanton Zug arbeitet aber bereits an einem kleineren und billigeren Modell.

silbriger Kasten mit einem weissen Schlauch
Noch zu gross und zu teuer: Der Sensor für flüchtige Substanzen, den Turnings Team im Labor für chemische Ökologie der Universität Neuenburg entwickelt hat. Olivier Dessibourg

Der mit dem Geruchssensor ausgestattete Roboter könnte den befallenen Bereich der Kulturpflanze erkennen, was ein gezieltes Eingreifen und einen geringeren Einsatz von Pestiziden ermöglichen würde.

Synthetische Pestizide sind schädlich für die natürliche Umwelt und die Menschen, die sie verwenden. Dennoch hat sich ihr Einsatz seit den 1990er-Jahren weltweit fast verdoppeltExterner Link. Um die Verwendung von Pestiziden zu verringern, will Ted Turlings einen weiteren natürlichen Feind der Raupe zum Einsatz bringen: sogenannte Nematoden.

Wurmgel gegen Raupe

Nematoden sind mikroskopisch kleine Würmer, die normalerweise im Boden leben. Sie können Teil des Verteidigungsarsenals der Maispflanze sein und werden von Stoffen angelockt, die von den Wurzeln freigesetzt werden. Genau wie die Wespe können sie aber auch die Raupe, welche die Blätter frisst, angreifen und töten. Ted Turlings und sein Team haben ein Gel entwickelt, das diese Nematoden enthält und direkt auf die Mitte des Maisblattes aufgetragen werden kann.

In Europa, den Vereinigten Staaten oder Asien könnte das Gel theoretisch direkt von einem Roboter aufgetragen werden, der die Anwesenheit eines Schädlings “gerochen” hat.

In Afrika, wo sich landwirtschaftliche Genossenschaften diese Technologie wahrscheinlich nicht leisten können, könnte das Gel von Hand mit grossen “Spritzen” aufgetragen werden. Gemäss Turlings haben Feldversuche in Ruanda Externer Linkgezeigt, dass diese Methode der biologischen Schädlingsbekämpfung ebenso wirksam sein kann wie Pestizide.

Das Nematodengel könnte einen Beitrag zur Bekämpfung der Lepidoptera (Spodoptera frugiperda) leisten, einer in Süd- und Nordamerika heimischen Schmetterlingsart. Seit dieser Schädling 2016 erstmals auf dem afrikanischen Kontinent entdeckt wurde, hat er die Gebiete südlich der Sahara vollständig kolonisiert, fast alle Felder befallen und Schäden in MilliardenhöheExterner Link verursacht.

Entdeckung, Skepsis, Anerkennung

Ted Turlings wurde in den Niederlanden geboren und hat sich schon immer für die Natur begeistert. Während seines Biologiestudiums brachten ihn seine Professoren auf das Thema der biologischen Schädlingsbekämpfung.

Bei diesem Ansatz werden antagonistische Beziehungen zwischen Organismen genutzt, um Populationen von Arten zu bekämpfen, die für Pflanzen und Menschen schädlich sind.

Im Alter von 25 Jahren ging Turlings für seine Doktorarbeit zum US-Landwirtschaftsministerium nach Florida. Dort machte er die wichtigste Entdeckung seiner Karriere, als er untersuchte, wie parasitäre Wespen von Raupen befallene Maispflanzen genau identifizieren können.

Weder der Geruch der Raupe noch der ihres Kots lockt die Wespe an, wie zuvor angenommen worden war. Vielmehr ist es der Geruch, den die Pflanze abgibt, wenn sie mit einer Substanz in Berührung kommt, die im Speichel des Parasiten enthalten ist.

Das war eine faszinierende Entdeckung, erinnert sich Turlings, denn sie deutet darauf hin, dass die Pflanze in der Lage ist, den Organismus zu erkennen, der sie frisst, und darauf mit der Abgabe von bestimmten Geruchsstoffen reagiert.

Ted Turlings im Labor in Florida in den 1990er-Jahren.
Ted Turlings in den 1990erä-Jahren in einem Labor in Florida. Ted Turlings

Der junge Wissenschaftler war der erste, der die genaue chemische Identität der von der Maispflanze abgegebenen flüchtigen Verbindung eruierte und an der Identifizierung der Schlüsselverbindung – später Volicitin genannt – im Raupenspeichel beteiligt war.

Die Entdeckung wurde 1990 in der Fachzeitschrift Science veröffentlichtExterner Link, stiess jedoch bei Biologenkollegen, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und Insekten beschäftigten, zunächst auf Skepsis.

Richard Karban, Insektenforscher an der Universität von Kalifornien, erinnert sich noch gut an die Reaktionen anderer Kolleg:innen, die auf diesem Gebiet tätig waren.

Er war nicht überrascht über deren Skepsis gegenüber Ted Turlings neuer Entdeckung. “Im Allgemeinen sind Wissenschaftler konservativ, wenn es um neue Ideen geht, die ihre langjährigen Überzeugungen in Frage stellen”, schreibt Karban in einem E-Mail an SWI swissinfo.ch.

In den folgenden Jahren erzielten andere ForschungsteamsExterner Link in ihren Laborexperimenten ähnliche Ergebnisse. Für Ted Turlings war die Genugtuung gross. Später fand man heraus, dass die von der Raupe freigesetzten flüchtigen Stoffe auch von benachbarten Pflanzen aufgenommen werden, die sich so auf einen allfälligen Angriff des Schädlings vorbereiten.

“Turlings Forschung lieferte Informationen darüber, wie sich Pflanzen gegen Schädlinge verteidigen und wie wir diese Abwehrmechanismen nutzen können, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern”, betont Richard Karban.

Weltweite Auswirkungen

Ted Turling musste mehr als 30 Jahre auf die volle Anerkennung warten, zumindest in der Schweiz, wo er seit 1993 tätig ist. Im Oktober 2023 verlieh ihm die Marcel-Benoist-Stiftung den gleichnamigen WissenschaftspreisExterner Link, der jährlich an in der Schweiz ansässige Wissenschaftler verliehen wird, die mit ihrer Arbeit einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des menschlichen Lebens geleistet haben.

In der Schweiz ist der Wissenschaftspreis Marcel Benoist als „Schweizer Nobelpreis“ bekannt. Dieser Preis wurde Ted Turlings verliehen, “weil seine Forschungsarbeiten komplexe biologische Phänomene in der Pflanzen-Tier-Kommunikation aufgeklärt und die Umweltwissenschaften weltweit geprägt haben”, schreibt die Stiftung.

Diese Auszeichnung sei eine zusätzliche Motivation, weiterzumachen, sagt Turlings. Und betont: “Meine Arbeit ist noch nicht zu Ende.”

Editiert von Sabrina Weiss. Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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