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Notfallgenehmigungen für Pestizide: Eine Gefahr für die Gesundheit in der Schweiz?

Fruchtfliege
Fruchtfliege auf einer roten Weintraube. Keystone / Fredrik Von Erichsen

Das Aufkommen neuer Schädlinge und die auslaufenden Genehmigungen für manche der giftigeren Pestizide hat die Europäische Union dazu gezwungen, bei Ausbrüchen auf Notfallgenehmigungen zu setzen.

Rosenkohl im Griff von Mottenschildläusen, Aprikosen und Pflaumen verwüstet von Kirschfruchtfliegen und Karotten attackiert von Blattläusen: Die Landwirtinnen und Bauern der Schweiz hatten wegen Schädlingen harte letzte Jahre. Für diese Situation stehen ihnen verschiedene Pestizide mit etwas mehr als 300 Wirkstoffe zur Verfügung.

Das klingt nach viel, aber gemäss dem Schweizer Verband sind seit 2005 208 Substanzen von der Schweizer Liste der zugelassenen Pestizide genommen worden. Sie wurden entweder als schädlich für die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt befunden oder die Bewilligungen wurden schlicht nicht erneuert. Alleine zwischen 2013 und 2022 wurden 88 Wirkstoffe zurückgezogen – gegenüber 41 neuen, die in dieser Zeit eine Zulassung erhalten haben.

Dieser Artikel ist Teil unserer Berichterstattung über die Entwicklungen in der Lebensmittelindustrie aus Sicht der Konsument:innen. Trotz ihrer geringen Grösse ist die Schweiz bedeutend im globalen Lebensmittelmarkt. Sie beherbergt Lebensmittel- und Agrargiganten wie Nestlé und Syngenta sowie wichtige Akteure in den Bereichen Schokolade und Milchprodukte.

Das Land positioniert sich auch als Food-Tech-Hub mit vielen Start-ups und einem eigenen Inkubator in Form des Swiss Food and Nutrition Valley im Kanton Waadt.

Die Schweiz ist auch eine europäische Drehscheibe für viele Rohstoffunternehmen, die mit Lebensmitteln wie Soja, Kakao, Kaffee und Palmöl handeln.

“Die Wissenschaftler:innen und Behörden konzentrieren sich vor allem darauf, die Folgen von Pestiziden auf die Umwelt zu überwachen. Wir haben manchmal das Gefühl, dass wir vergessen worden sind”, sagt Nicolas Wermeille vom Schweizer Bauernverband.

Parallel dazu sind etwa 700 Bewilligungsanträge für neue Wirkstoffe bei den Schweizer Behörden hängig. Die Situation hat sich so verschlechtert, dass sich das Schweizer Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen gezwungen sah, mehr und mehr Notfallgenehmigungen für die temporäre Nutzung von Pestiziden zu vergeben, die nicht auf der Liste der zugelassenen Stoffe sind.

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“Ein grosser Anteil von Notfallregistrierungen sind nötig, weil neue Produkte, wie Walnüsse oder Haselnüsse, in der Schweiz angebaut werden – oder weil Schädlinge aus dem Ausland angekommen sind, etwa die Bananenschmierlaus (Pseudococcus comstocki), die Kirschfruchtfliege (Drosophila suzukii) oder die Stinkkäfer (Familie der Pentatomidae)”, sagt Edi Holliger vom Schweizer Obstverband. 

Ein Risiko für die Konsument:innen? 

Die Pestizide, die in der Schweiz Notfallgenehmigungen erhalten, gehören nicht in die Hochrisiko-Kategorie. Dasselbe kann man über jene in der Europäischen Union (EU) nicht sagen. Im Januar hat das Pestizid Aktions-Netzwerk offengelegt, dass zwischen 2019 und 2022 14 von 24 in der EU verbotene Pestizide insgesamt 236 Notfallgenehmigungen erhalten haben.

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Neben verbotenen Pestiziden haben auch Agrochemikalien eine Notfallgenehmigung erhalten, die auf der Liste der 77 zu ersetzenden Stoffe sind, die die EU auslaufen lassen will, sobald es sicherere Alternativen gibt. Beispielsweise haben die ersten zwei Pestizide auf der Liste, 1-Methylcyclopropen und Aclonifen, in der EU 15 beziehungsweise 14 Notfallgenehmigungen erhalten.

Es ist ein Anlass zur Sorge, wenn man bedenkt, dass 2022 86% des importierten Getreides, 87% des importierten Gemüses und 56% der importierten Früchte und Nüsse aus der EU in die Schweiz kamen. Gemäss einer Untersuchung der NGO Public Eye hätten über 10% der importierten Lebensmittel, die die Behörden 2017 getestet haben, Rückstände von Pestiziden enthalten, die in der Schweiz wegen ihrer Schädlichkeit für Gesundheit oder Umwelt verboten sind.

Daten des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen haben zudem gezeigt, dass 52 verbotene Pestizide in den Tests jenes Jahres gefunden worden sind. Das war einer der Gründe, weshalb 2021 die “Pestizid-Initiative” die Importe von Lebensmittelprodukten, die schädliche Chemikalien enthalten, stoppen wollte. Es scheint, die Schweizer Konsument:innen sind besorgt – aber nicht so sehr, da die Initiative hat in der schweizweiten Abstimmung nur knapp 40% Zustimmung erhalten. 

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Gastgeber/Gastgeberin Anand Chandrasekhar

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Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl

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