Zeit ist nicht immer Geld

An einer Zeit- oder Tauschbörse bieten die Leute ihre Kenntnisse und Fähigkeiten an: Zur Lösung eines Problems, zur Hilfe in der Nachbarschaft.
Die einen offerieren therapeutische Massagen, andere suchen Hilfskräfte zum Zügeln. Es melden sich Baby-Sitterinnen, Informatiker, Chauffeure, Gärtnerinnen.
Laura hat ein Problem mit der elektronischen Post, die seit drei Tagen blockiert ist. Marco besitzt einen grossen Garten, hat aber keine Zeit, ihn zu pflegen. Stefania zieht bald in eine neue Wohnung um, hat aber ihre Bücher noch nicht in Zügelkisten verpackt.
Die kleinen Verpflichtungen oder Unannehmlichkeiten, die der Alltag mit sich bringt, sind manchmal nicht leicht zu bewältigen. Im Zeitalter von Technologie und Globalisierung kann das Einfache schwierig werden.
Laura verfügt über viel Freizeit, Marco ist Informatik-Experte und Stefania eine passionierte Gärtnerin. Es würde genügen, sie zusammenzubringen, um ihre Probleme gegenseitig zu lösen.
Einen Treffpunkt schaffen, wo Dienstleistungen, Know-how oder, eher selten, Produkte ausgetauscht werden: Das haben sich die Börsen zum Austausch von Dienstleistungen und die lokalen Tauschnetze zum Ziel gemacht.
Eine Börse ohne Geld
Das Prinzip ist einfach: Die Teilnehmer bieten oder verlangen Dienstleistungen und Güter.
«Grundsätzlich handelt es sich ein Solidaritäts-Netz, wo die Leute das anbieten, was sie können, sie stellen ihre Zeit zur Verfügung», sagt Silvio Mella, Präsident der Tauschbörse «Scambio di favori» im Tessin, gegenüber swissinfo.
Bei diesen Börsen erhalten die Nutzerinnen und Nutzer wie bei einer Bank ein Konto, auf dem die Tauschgeschäfte gutgeschrieben oder belastet werden. Einziger Unterschied, betont Mella, ist, dass die Tauschbörse keinen Profit anstrebt und die Geschäfte sich in einer Atmosphäre der Gegenseitigkeit und Freundschaft abspielen.
Eine Stunde Arbeit beim Umzug entspricht also einer Stunde Gartenarbeit oder Beratung in Informatik.
Mit Solidarität die Krise bewältigen
Diese Solidaritäts-Netze entstanden 1984 in Kanada, in einer Region die unter der Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit schwer gelitten hat. Die Börsen hatten zum Ziel, das Leben dort wieder zu beleben.
Zuvor hatte es in Österreich in den 30er-Jahren bereits ähnliche Systeme gegeben.
In Italien wurde die erste solche Zeittausch-Börse zu Beginn der 1990er-Jahre in Parma gegründet, auf Initiative einer Rentner-Gewerkschaft hin. Es waren jedoch die Frauen von Sant’Arcangelo aus der Romagna, die 1995 ein perfekteres System auf die Beine stellten, das ihren Bedürfnissen entsprach. Seither sind immer mehr solche Börsen entstanden, heute gibt es in Italien rund 300.
Frauen sind solidarischer
In der Schweiz existiert dieses Phänomen seit rund 15 Jahren: Das erste Tauschnetz entstand 1989, im waadtländischen Malley.
«Zur Zeit gibt es in unserem Land etwa 25 Solidaritätsnetze, die zwischen 1000 und 2000 Leute vereinigen», sagt Andreas Mäder, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit beim «Luzerner Tauschnetz» – mit 300 Mitgliedern das grösste in der Schweiz.
«Der Frauenanteil bei diesen Netzwerken war immer überproportional gross», erklärt Silvio Mella. Dieses Ungleichgewicht spiegle sich im Sinn für Solidarität, die in der Welt der Frauen verbreiteter sei.
Die gefragtesten Dienstleistungen sind denn auch Hilfen im Haushalt, Baby-Sitting sowie Angebote für die Gesundheit, wie Massagen und Therapien. Aber auch wer Probleme mit dem Computer, bei Reparaturen im Haus oder beim Umzug hat, kommt auf seine Rechnung.
Für einen besseren sozialen Zusammenhalt
Neben der Lösung von Alltagsproblemen tragen diese Systeme auch dazu bei, den sozialen Zusammenhalt zu festigen und die Lebensqualität in den Quartieren zu verbessern.
«Die Begegnung zwischen Leuten unterschiedlicher Horizonte und Alter leistet einen Beitrag zur Entwicklung des lokalen Lebens», bekräftigt Aline Giraudeau von der lokalen Tauschbörse SEL (Système d’échanges local) in Lausanne.
Diese Börsen funktionieren allerdings nur auf einer geografisch begrenzten Basis, seien das Quartiere wie in Zürich oder grössere Gebiete wie in Luzern oder im Wallis. Ein grösseres Netz macht allerdings keinen Sinn: Denn eine Genferin hat wohl kaum Interesse, in Basel Musikstunden zu erteilen.
Solidarisch, aber nicht freiwillig
Wenn man von Solidarität und Hilfeleistung spricht, ist man versucht, einen Bezug zur Freiwilligenarbeit zu ziehen. Dies wird von Silvio Mella jedoch umgehend dementiert: «Wir sind weder Sozialarbeiter noch Freiwillige: Wer bekommt, kann auch geben. Deshalb gibt es keinen Tausch ohne Entschädigung.»
swissinfo, Luigi Jorio
(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
Tauschbörsen gibt es in zahlreichen Ländern der Welt, von Frankreich über Argentinien, Japan bis nach Kamerun.
Alle funktionieren nach demselben Prinzip: Tausch von Dienstleistungen und Gütern ohne Gewinnstreben. Sie entwickeln sich jedoch auf Basis verschiedener Funktionsmodelle.
Gewisse Börsen funktionieren nach dem Modell «1 Stunde geleistete Arbeit ist gleich 1 Stunde erhaltene Arbeit», egal, ob während dieser Zeit das Baby gehütet oder der Computer repariert wird.
Andere Netze dagegen benutzen eine Art virtuelles Tauschgeld. In den USA wird es «Time-Dollar» genannt, in Italien «Grano» (in Anlehnung an «grana», was Zaster heisst).
Dies erlaubt, den Service oder die Ware genauer zu bewerten.
In der Schweiz existieren etwa 25 Solidaritäts-Netze, auch Tausch-Börsen genannt.
Sie vereinen rund 1000 bis 2000 Personen.
Das erste Tauschnetz in der Schweiz entstand 1989 in Malley im Waadtland.

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