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Gletscherseen als tickende Zeitbomben im Himalaya

Gletschersee
Ein namenloser Gletschersee im tibetischen Hochgebirge. Heng Li

In verschiedenen Regionen des Himalayas steigt das Risiko von Überschwemmungen durch Gletscherseen. Doch die Zusammenarbeit zwischen betroffenen Ländern harzt. Die Schweiz hilft.

Vor fünf Jahren ereignete sich im chinesischen Teil des Himalayas eine Naturkatastrophe: Der Gongbatongshaco-Gletschersee in Tibet trat am 5. Juli 2016 über die Ufer und spülte Unmengen an Wasser den Berg hinunter. Die Flut überquerte die Grenze zum benachbarten Nepal, zerstörte dort ein Wasserkraftwerk und überschwemmte die Autobahn zwischen China und Nepal.

Die Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregion wurden weder von den chinesischen noch von den nepalesischen Behörden gewarnt. Getötet wurde niemand. Doch der wirtschaftliche Schaden belief sich auf über 70 Millionen Franken.

Externer Inhalt
TV-Bericht von BBC News (Engl.)

Wachsendes Problem

Eine aktuelle Studie der Universität Genf legt nahe, dass sich solche Katastrophen vermehrt ereignen können. Gemäss dem Artikel, der im Fachmagazin “Nature Climate Change” veröffentlichtExterner Link wurde, stellt einer von sechs Gletscherseen im Himalaya ein hohes oder sehr hohes Risiko für flussabwärts gelegene Gemeinden dar.

Von diesen Seen befinden sich 191 in Grenzgebieten, wobei über 85 Prozent davon auf die Grenzregion China-Nepal entfallen. Die Gongbatongshaco-Flut von 2016 war ein Weckruf und gab den Anstoss zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

“Ein chinesisches Forschungsteam führte gemeinsam mit nepalesischen Wissenschaftlern eine detaillierte Bestandaufnahme und Analyse des Ereignisses durch”, sagt Guoxiong Zheng, einer der Autoren der Genfer Studie, gegenüber swissinfo.ch.

Aber angesichts der Tatsache, dass es derzeit 165 risikoreiche Gletscherseen entlang der Grenze gibt, muss die Zusammenarbeit auf hoher Ebene verstärkt werden. Die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) will die chinesisch-nepalesische Kooperation fördern. Sie nimmt gemeinsam mit dem International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD) in Nepal ein Hilfsprojekt in Angriff.

“Aktuell befinden wir uns in einer Vorbereitungsphase”, sagt Léa Zürcher, Sprecherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten. “Das ICIMOD untersucht mit chinesischen und nepalesischen Partnern, wo im Koshi-Becken die grössten Risiken für Gletschersee-Ausbrüche bestehen und wie diese mit einem Frühwarnsystem angegangen werden können.”

Karte Gletscherseen im Himalaya
Kai Reusser / swissinfo.ch

Umweltdiplomatie

Die Himalaya-Nachbarn Afghanistan und Tadschikistan zeigen, in welche Richtung sich die Beziehung zwischen China und Nepal entwickeln könnte. Auf die afghanisch-tadschikische Grenzregion entfallen derzeit zwar nur 5 Prozent der risikobehafteten Grenz-Gletscherseen. Experten erwarten aber, dass dieser Anteil in den nächsten Jahren auf bis zu 36 Prozent ansteigen wird.

Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten begann einst wegen eines gefährlichen Hochgebirgs-Sees: Dem Sares-See im östlichen Tadschikistan. Dieser war aber nicht durch einen Gletscher, sondern durch einen Bergsturz entstanden, der durch ein Erdbeben ausgelöst worden war.

Geologen sprechen von einer tickenden Zeitbombe. Sie befürchten, dass das Einbrechen eines grossen Damms bis zu fünf Millionen Menschen in Tadschikistan, Afghanistan, Usbekistan und Turkmenistan treffen könnte.

Infolge des weltweiten Medieninteresses wurde Tadschikistan von der internationalen Gemeinschaft, einschliesslich der Schweiz, dazu gedrängt, die Beziehungen in grenzüberschreitenden Umweltfragen zu stärken. Das in Genf ansässige Zoi Environment Network spielte dabei eine wichtige Rolle.

“Vorher gab es dort nichts, ausser einer allgemeinen Übereinkunft, dass etwas getan werden muss”, sagt Viktor Novikov, Experte für Zentralasien bei Zoi. “Wir versuchen, eine Zusammenarbeit zu fördern: durch Treffen, gemeinsame Expeditionen und Diskussionen über technische Details und Ausrüstung.”

Tadschikistan und Afghanistan haben bisher drei grenzüberschreitende Umweltverträge unterzeichnet: über Hydrologie, Katastrophenmanagement und Umweltschutz.

“Wasser wird oft zum Politikum, zum Beispiel beim Thema Bewässerung. Dies stört den Informationsaustausch”, sagt Novikov. “Wenn aber ein allgemeineres wasserbezogenes Risiko besteht, ist die Chance grösser, dass die Politik herausgehalten wird. Jeder versteht, dass beide Seiten ein grosses Interesse an einer guten Zusammenarbeit haben.”

Schweizer Expertise

Wenn die Bereitschaft einmal vorhanden ist, bei der Minimierung der Risiken von Gletschersee-Überflutungen (in der Fachsprache auch GLOFs genannt), zusammenzuspannen, kommt der nächste Schritt: technische Lösungen finden. Hier kann die Expertise der Schweiz wertvoll sein.

Die Alpennation hat für ihre Gletscherseen eine integrierte Risikomanagement-Strategie entwickelt, die seit mehreren Jahrzehnten in Kraft ist. Sie beinhaltet eine Kombination aus Frühwarnsystemen mit Sensoren, teilweiser Entleerung der Seen bei Bedarf und dem Bau von Dämmen im Tal, um Geschiebe zurückzuhalten. Doch selbst die reiche Schweiz kann es sich nicht leisten, all diese Massnahmen bei all ihren 120 Gletscherseen umzusetzen.

Entwicklung des unteren Grindelwalder Gletschersees zwischen März und September 2008

Stattdessen nehmen die Expertinnen und Experten eine Risikobewertung vor: Sie identifizieren die Gefahren und erstellen Modelle, die aufzeigen, was weiter unten im Tal geschehen könnte. Danach werden die Kosten einer möglichen Katastrophe abgeschätzt.

“Wenn man Risikobewertung und Kostenanalyse kombiniert und dabei die Lebensdauer der Untersuchung berücksichtigt, weiss man, ob es eine gute oder eine schlechte Investition ist”, sagt Markus Stoffel, Forscher an der Universität Genf. “Es ist eine Abwägung zwischen den entstehenden Kosten und dem möglichen wirtschaftlichen oder menschlichen Verlust.”

Himalaya-spezifische Lösungen

Laut Stoffel ist die Lage im Himalaya aber um einiges prekärer als in der Schweiz. Das liegt zum einen an der Zahl der Gletscherseen: In der Region gibt es Tausende, in der Schweiz hingegen nur etwas mehr als hundert.

Zum anderen befinden sich viele in unzugänglichen und heiklen Gebieten, wo der Zugang durch das Militär eingeschränkt wird. Hinzu kommt, dass die Talhänge im Himalaya viel steiler sind und es eine Monsunzeit mit starken Regenfällen gibt, die das Risiko von GLOFs verstärkt.

Eine Massnahme sei, die Art und Weise zu überdenken, wie etwa Dämme, Autobahnen und Brücken gebaut werden. “Die Ingenieure bauen oft mit zu schwacher Risiko-Referenz. Das Schlimmste, was die Bauwerke verkraften können, ist eine schwere Monsunflut. Doch bei solchen Gletschersee-Überflutungen sind die Überschwemmungen oft viel grösser als eine Monsunflut”, so Stoffel.

Je nach Standort betrage die Wiederkehrperiode 200, 500 oder 1000 Jahre. Die Infrastruktur hoch oben in den Bergen sei aber für diese seltenen Ereignisse nicht ausgelegt.

Stoffel empfiehlt den Himalaya-Staaten ausserdem, Frühwarnsysteme einzurichten, um Überschwemmungen zu erkennen, sobald diese im Einzugsgebiet auftreten. “Dann hätten die Menschen weiter unten im Tal immer noch einige Minuten Zeit, um ihre Dörfer zu verlassen und sich in sicherere Gebiete zu begeben. So könnten sie zwar nicht die schlimmsten Schäden an Häusern und Siedlungen verhindern, aber zumindest Menschenleben retten”, sagt er.

In den tadschikisch-afghanischen Grenzgebieten werden solche Technologien bereits eingesetzt. “Sie müssen nun optimiert und auf die lokalen Bedingungen und Bedürfnisse abgestimmt werden”, sagt Zoi-Experte Viktor Novikov.

Spannungen überwinden

Doch was, wenn zwischen den Nachbarländern ein frostiges Verhältnis besteht? Indien und China, die beiden grössten Himalaya-Nationen, waren in letzter Zeit in militärische Scharmützel entlang ihrer gemeinsamen Grenze verwickelt. Ist so eine Zusammenarbeit beim Katastrophenschutz überhaupt möglich? Eine Lösung wäre, bei der Datensammlung und dem Datenaustausch so viel wie möglich zu automatisieren, sagt Novikov.

“Wenn die Beziehungen schlecht sind, kann der Datenaustausch aufgrund des Misstrauens in Stocken geraten oder ganz aufhören. Je weniger der menschliche Faktor beteiligt ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Informationsaustausch durch die Politik beeinträchtigt wird.”

(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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