
Unglück am Mattmark-Staudamm: Als eine Eislawine 88 Arbeiter unter sich begrub

Es ist das schwerste Unglück in der Geschichte der modernen Schweiz. Sechzig Jahre nach der Eislawine von Mattmark erinnern sich Überlebende an die Tragödie – und an den Prozess, bei dem alle Angeklagten freigesprochen wurden.
«Ich weiss nicht, wie ich mich retten konnte. Niemand kann es mir sagen, nicht einmal Pater Costante, der uns jedes Jahr bei der Gedenkfeier für die Opfer begleitet.» Was hat Ilario Bagnariol gerettet, war es die Vorsehung, das Schicksal oder einfach Glück?
Als wäre es gestern gewesen, erinnert sich der mittlerweile 83-jährige ehemalige Bulldozerfahrer von der Baustelle des Mattmark-Staudamms, an jenen Montag vor 60 Jahren. «Wie jeden Tag bereitete ich Material für den Bau des Staudamms vor», erzählt er in Ins, einem Dorf im Berner Seeland, wo er seit 1971 lebt.
«Nachdem ich einen riesigen Felsblock hinunterbefördert hatte, ging ich zurück – und in diesem Moment sah ich, wie die Gletscherzunge über mir zerbrach. Hausgrosse Blöcke stürzten ins Tal. Einen Augenblick später war das Barackendorf verschwunden.»

Vom Eis zerstückelte Körper
Es ist 17:15 Uhr am 30. August 1965. Zwei Millionen Kubikmeter Eis und Geröll überrollen die Baustelle von Mattmark und begraben 88 Arbeiter: 56 Italiener, 23 Schweizer, vier Spanier, zwei Österreicher, zwei Deutsche und einen Staatenlosen.
«Wir waren alle Freunde, wir waren wie eine Familie», erinnert sich Bagnariol, während er uns einige Fotos aus jenen Jahren zeigt. Der aus Fiume Veneto in der Provinz Pordenone stammende Ilario Bagnariol wanderte mit 19 Jahren nach Luxemburg aus, wo er lernte, Bulldozer zu fahren.

Als die Baustelle dort vor der Schliessung stand, lud ihn ein Arbeiter aus Bern ein, ihm in die Schweiz zu folgen, um am Bau des Mattmark-Staudamms zu arbeiten. «Nach einem Besuch zu Hause, fuhr ich nach Brig, bestand die ärztliche Untersuchung und setzte dann meine Reise bis nach Saas-Almagell fort. Den letzten Kilometer ging ich zu Fuss.»
Am nächsten Tag war er bereits auf der Baustelle auf über zweitausend Metern Höhe, umgeben von den majestätischen Bergen des Oberwallis. Auch dort, wie in Luxemburg, wurde er an das Steuer eines Bulldozers gesetzt.
Das war 1963. Zwei Jahre später wird er Zeuge der schlimmsten Katastrophe der modernen Schweiz. «Es war schrecklich», erzählt Bagnariol. «Mit meinem Chef holte ich eine Baumaschine und begann sofort mit der Suche, indem ich von unten her das Eis umwälzte. Ich arbeitete bis tief in die Nacht.»
Am nächsten Tag kehrte er zum Ort der Tragödie zurück und sah grauenhafte Dinge: Das Eis hatte die Körper der Opfer buchstäblich zerstückelt. In der Krankenstation von Zermeiggern wurden die Leichen in Särgen aufgereiht und erst an die Angehörigen übergeben, nachdem sie vollständig zusammengesetzt worden waren.
«Eines Tages entdeckte ich einen Oberkörper, ohne Beine und Arme. Ich weiss, dass es Giuseppe war, weil er in der Tasche eine Schachtel Zigaretten der Marke HB hatte. Es waren nur zwei von über tausend Arbeitern, die diese rauchten. Der andere, ein Österreicher, hatte überlebt.»
Unter Dutzenden Metern Eis wurde auch sein Freund Mario Fabbiane, ein Mechaniker aus Sedico, begraben. Er ist eines der 17 Opfer aus der Provinz Belluno. «Er war mein Zimmergenosse und konnte es kaum erwarten, den Anruf seiner Frau zu erhalten, der ihm die Geburt ihres ersten Kindes ankündigen sollte», sagt Bagnariol. «Das Schicksal wollte es stattdessen, dass ein Anruf von der Baustelle kam, um seinen Tod mitzuteilen.»
Zwei Wochen nach der Tragödie verliess Ilario Bagnariol das Wallis und zog an den Fuss des Juras, wo er am Ausbau des Zihlkanals zwischen dem Bieler- und dem Neuenburgersee arbeitete. In der Zwischenzeit gingen die Sucharbeiten in Mattmark weiter. Im Oktober wurden noch 61 Personen vermisst. Es dauerte Monate, bis alle Opfer geborgen und identifiziert waren.
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Stärker als die Natur
Über die Tragödie von Mattmark ist kürzlich ein Roman mit dem Titel Ein unvorhersehbares Ereignis des Schriftstellers Urs HardeggerExterner Link erschienen. «Mein Ziel war es nicht nur, die nackten Fakten zu erzählen, sondern sie in einen breiteren Kontext zu stellen. Dabei wollte ich die Atmosphäre jener Jahre durch die Augen der Menschen beschreiben, die am Bau des Staudamms arbeiteten und aus verschiedenen kulturellen und sozialen Realitäten stammten», so Hardegger.
«Einerseits gab es den Blick der Migranten, die gezwungen waren, ihr Land zu verlassen, in der Hoffnung, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Andererseits die Schweiz, die zwar Arbeitskräfte brauchte, ihnen gegenüber aber oft eine feindselige Haltung zeigte.»
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In den 1950er-Jahren, zu Beginn der Planungsphase, kamen die ersten Experten und Arbeiter für Vermessungen und Bohrungen ins Saastal im Oberwallis. «Mitten im Wirtschaftsboom herrschte ein grosses Vertrauen in den Fortschritt und die technologische Entwicklung», sagt Hardegger. «Es schien, als sei alles möglich, sogar die Natur zu beherrschen.»
Mit dem Abschluss dieser ersten Phase nahmen die ausländischen Arbeitskräfte am Staudamm, vor allem aus Italien, rasch zu. 1963 zählte man 1400 Arbeiter, die grösstenteils im Barackendorf Zermeiggern, etwas mehr als einen Kilometer oberhalb von Saas-Almagell, untergebracht waren. Weitere Schlafsäle und Büros befanden sich zunächst südlich des Damms im Staubecken, wurden aber Mitte der 1960er-Jahre auf die Nordseite, unter den Allalingletscher, verlegt.
Um die Wege der Arbeiter zu reduzieren und die Arbeiten zu beschleunigen, beschloss die Leitung, immer mehr Baracken – Unterkünfte, Büros, Werkstätten und Kantinen – direkt unter der Falllinie des Eises zu errichten.
Im Buch Mattmark 1965 – Erinnerungen, Gerichtsurteile, italienisch-schweizerische Verflechtungen von Elisabeth Joris erinnert sich Thomas Burgener in einem Essay an die Begegnung mit Germano Rossi. Der Regisseur aus Treviso kontaktierte Burgener 2023, weil er zusammen mit seinen Kindern und einer Gruppe junger Menschen die Tragödie von Mattmark auf die Bühne bringen wollte.
Das Stück La forma del vento (Die Form des Windes) wurde am 1. Juni 2024 in Treviso uraufgeführt. Das Stück zeichnet den Prozess und den Druck nach, dem Richter Paul-Eugen Burgener, Thomas‘ Vater, ausgesetzt war. Auf der Bühne erscheinen Figuren, die vom Bundesrat Roger Bonvin und dem Professor der ETH Zürich Gerold Schnitter inspiriert sind. Die Aufführung sollte nicht nur an die Tragödie erinnern, sondern auch zum Nachdenken über das fremdenfeindliche Klima der damaligen Zeit anregen und es in Beziehung zu den aktuellen Entwicklungen in der Schweiz und Italien setzen.
Eine wirklich unvorhersehbare Katastrophe?
1965 war Urs Hardegger acht Jahre alt und erinnert sich noch an die Reaktion seiner Eltern auf die Nachricht von der Katastrophe von Mattmark – ein Name, der sich für immer in sein Gedächtnis einprägen sollte.
Vor drei Jahren beschloss er, dem Ereignis ein Buch zu widmen und begann, sich über den Vorfall zu informieren. Mit dem Ende der Sperrfrist hatte er 2022 die Möglichkeit, die Prozessakten zu lesen. Trotz des Titels seines Werks – Ein unvorhersehbares Ereignis – betont der Schriftsteller, dass diese Katastrophe alles andere als unerwartet war.
«Die Katastrophe hatte sich in Wirklichkeit lange im Voraus angekündigt. Zeugen berichten, dass immer grössere Blöcke vom Gletscher fielen. Dennoch wurde der Gletscher nie überwacht und es wurde kein Alarmsystem installiert, obwohl dies von Experten empfohlen worden war.»

Der Roman befasst sich daher auch mit der Frage der Verantwortung für den Tod von 88 Menschen. War der Gletscherbruch wirklich unvorhersehbar, wie der Walliser Bundesrat Roger Bonvin und der ETH-Professor Gerold Schnitter unmittelbar danach behaupteten?
Ihr Urteil wurde später wie ein Mantra von den Schweizer Medien wiederholt. «Dabei waren beide keine neutralen Beobachter», wie Kurt Marti in einem Essay im Buch Mattmark 1965Externer Link der Historikerin Elisabeth Joris schreibt. «Roger Bonvin hatte in den Anfängen der Planung von Mattmark als Ingenieur für die Baugesellschaft Elektrowatt AGExterner Link gearbeitet […]. Während Gerold Schnitter […] sich in einem Interessenkonflikt befand.»

Eine grosse Ungerechtigkeit
Nach siebenjährigen Ermittlungen kam es 1972 zum Prozess vor dem Bezirksgericht Visp, der mit dem Freispruch der 17 Angeklagten endete. Das Urteil wurde im September desselben Jahres vom Kantonsgericht Sitten in der Berufung bestätigt.
Ein Urteil, das in Italien grosse Empörung auslöste, auch weil den Berufungsklägern, fast ausschliesslich Familien der Opfer, die Hälfte der Prozesskosten auferlegt wurde. Diese wurden schliesslich von der italienischen Regierung übernommen.

Einer der fünf Richter des Kantonsgerichts Sitten war Paul-Eugen Burgener, der beauftragt wurde, die Akten zu studieren und einen Bericht sowie einen Urteilsvorschlag vorzubereiten.
Heute erinnert sich sein Sohn Thomas Burgener, ehemaliger SP-Nationalrat und Walliser Staatsrat, an das Engagement, mit dem sein Vater die Aufgabe anging. «Ich war damals 18 Jahre alt und wir verbrachten diesen Sommer in einem Chalet im Wallis», erzählt er. «Mein Vater stand jeden Morgen um fünf Uhr auf und studierte vier Stunden lang die Unterlagen, die in sieben Apfelkisten enthalten waren. In seinem etwa 80-seitigen Vorschlag empfahl er die Verurteilung von vier Managern der Elektrowatt AG wegen fahrlässiger Tötung.»
Neben verschiedenen wissenschaftlichen Berichten stützte Paul-Eugen Burgener seinen Vorschlag auch auf ein internationales Gutachten, das 1967 von drei Experten aus Österreich, Deutschland und Frankreich im Auftrag des Untersuchungsrichters erstellt worden war.
Seine Verurteilungsforderung wurde jedoch nicht angenommen: Die anderen Richter überstimmten ihn. Auf dem Gericht lastete starker politischer Druck – die Angeklagten gehörten zur Führungsspitze der wichtigsten Unternehmen der Schweizer Elektroindustrie – und wirtschaftlicher Druck, da die Baustelle Arbeit und Wohlstand in die Region gebracht hatte.
«Mein Vater hat dieses Urteil nie akzeptiert und war nach dem Prozess nicht mehr der gleiche Mann», erinnert sich heute sein Sohn Thomas Burgener. «Einige Wochen vor seinem Tod im Alter von 84 Jahren sprach er noch einmal darüber und sagte, dass eine grosse Ungerechtigkeit begangen worden sei.»
Übertragung aus dem Italienischen mithilfe der KI Claude: Janine Gloor

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