
Angehörige bangen um in Tunesien inhaftierten 81-jährigen Schweizer

Ein ehemaliger UNO-Mitarbeiter sitzt seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft. Seine Familie sieht ihn als unschuldiges Opfer der politischen Umstände. Der Schweiz und dem UNHCR wirft sie vor, sich nicht ausreichend für ihn einzusetzen.
«Er ist ein unschuldiger Bürger, ein unschuldiger Schweizer Bürger. Er riskiert den Tod und das ist nicht hinnehmbar.» Yusra Djemalis Stimme zittert, wenn sie von ihrem Vater Mustapha erzählt. Ihr Vorwurf: Die Schweizer Behörden täten nicht genug, um den 81-jährigen, chronisch kranken Schweiz-Tunesier freizubekommen. Sie verwendeten seine doppelte Staatsbürgerschaft als Rechtfertigung für ihre Untätigkeit.
Seit Haftbeginn im Mai 2024 habe der langjährige UNO-Mitarbeiter Mustapha Djemali fast 40 Kilogramm Gewicht verloren, berichtet seine Familie. Die Haftbedingungen seien unwürdig: 60 Inhaftierte, die fast jeden Moment in einer überbelegten Zelle mit winzigen Fenstern verbringen müssten, ohne Klimaanlage bei Aussentemperaturen von teils über 40 Grad Celsius, voller Zigarettenrauch.
Bis die Behörden Djemalis kaputte Lesebrille zur Reparatur freigaben und er sie repariert zurückbekam, dauerte es Monate, und erst nach mehr als einem Jahr in Haft habe er endlich alle nötigen Medikamente bekommen. Mehrere Anträge, den Vater aus humanitären Gründen aufgrund seines Alters und der fragilen Gesundheit zu entlassen und stattdessen unter Hausarrest zu stellen, lehnte das zuständige Gericht ab.
Ein rauer Wind weht in Tunis
Mustapha Djemali ist einer von insgesamt acht Mitarbeitenden verschiedener tunesischer Nichtregierungsorganisationen (NGO), die seit Frühjahr 2024 festgenommen wurden. Sie hatten sich für Flüchtlinge, Asylsuchende und Migrant:innen eingesetzt. Die tunesische Staatsanwaltschaft wirft den acht vor, die irreguläre Ansiedlung von Ausländer:innen in Tunesien vorangetrieben zu haben. Angestossen wurde das Verfahren womöglich, weil Djemalis NGO eine Ausschreibung für die Anmietung von Hotels zur Unterbringung von Flüchtlingen veröffentlicht hatte.
Seit mehr als zwei Jahren geht die tunesische Regierung massiv gegen Migrant:innen und Flüchtlinge aus Ländern des Afrikas südlich der Sahara vor, nachdem Staatspräsident Kais Saied vor einem «organisierten Bevölkerungsaustausch» in grossem Stil gewarnt hatte. Gemäss offiziellen Angaben sind jedoch nur rund 66‘000 Ausländer:innen unter den zwölf Millionen Menschen im Land. Nach Unterzeichnung eines Migrationsdeals mit der Europäischen Union im Sommer 2023 ist die Zahl der Ankünfte aus Tunesien in Europa zwar stark zurückgegangen. Gleichzeitig mehren sich die Vorwürfe massiver Menschenrechtsverstösse gegen Migrant:innen und Flüchtlinge in Tunesien.
Das sagte der tunesische Soziologen Mehdi Mabrouk im Vorfeld des geplanten Migrationsdeals:

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2017, längst im Ruhestand, hatte Djemali den Tunesischen Flüchtlingsrat (Conseil Tunesien pour les Réfugiés, CTR) gegründet, eine NGO, die fast ausschliesslich durch das Flüchtlingshilfswerk der UNO (UNHCR) finanziert wurde – seinen ehemaligen Arbeitgeber.
Für das UNHCR übernahm Djemalis NGO seit 2019 die Registrierung von Geflüchteten, die in Tunesien einen Asylantrag stellen wollten. Dieser wird über die UN-Organisation abgewickelt, weil Tunesien kein eigenes Asylrecht hat.

Die UNO habe Djemali fast dazu gedrängt, die Organisation für diese Zwecke zu gründen, sagt Djemalis Sohn Fadhel: «Sie brauchten unseren Vater. Da er jahrelang mit dem UNHCR zusammengearbeitet hat, haben sie ihm dieses Projekt vorgeschlagen, so wie es überall auf der Welt gemacht wird: ein Partner, der die Logistik und die Verwaltung übernimmt.»
«Als sei er kein 100-prozentiger Schweizer»
Mustapha Djemali war 1980 nach Genf gekommen. Dort begann der Jurist seine Karriere beim UNHCR. Bis 2004 arbeitete er für die UN-Organisation, zuletzt als Regionaldirektor für Nordafrika und den Nahen Osten. In dieser Zeit wurden auch seine vier Kinder geboren. Sie sind in der Schweiz aufgewachsen, fühlen sich dort zu Hause, genau wie seine Frau, die inzwischen in der Schweiz Beamtin ist.
Seit mehr als 20 Jahren haben alle Familienmitglieder das Schweizer Bürgerrecht.
Aber sie sind auch Tunesier:innen. Die tunesische Staatsbürgerschaft kann man nicht ablegen oder verlieren, selbst wenn man eine andere annimmt. Ein Detail, das den Fall von Mustapha Djemali kompliziert macht. Denn nach internationalem Recht gilt er darum in Tunesien als Tunesier. Die Schweizer Behörden können – zumindest offiziell – nur begrenzt tätig werden.
«Das Argument der Doppelstaatlichkeit war das erste, was ich gehört habe. Es wird ständig vorgebracht», so Djemalis Sohn Fadhel, «Als sei er kein 100-prozentiger Schweizer.»

Länger als die Maximaldauer in Untersuchungshaft
Fadhel Djemali war dabei, als sein Vater am Morgen des 3. Mai 2024 im Büro des CTR verhaftet wurde. Zwei Stunden später hätte er einen Termin mit einem tunesischen Ministerium und einer Vertreterin des UNHCR gehabt. Alles nur ein Missverständnis, er werde bald freikommen, dachten Vater und Sohn damals. Die Schweizer Botschaft, an die er sich sofort gewandt hatte, habe sich ähnlich geäussert. Der Vater sei sehr diskret, nie öffentlich in Erscheinung getreten, hätte sich nicht zu politischen Fragen geäussert. Die Arbeit des Flüchtlingsrates sei sehr technisch, administrativ und den Behörden bekannt gewesen. Er habe nicht mit irregulären Migrant:innen, sondern im Rahmen internationaler Verfahren nur mit anerkannten Flüchtlingen und Asylsuchenden gearbeitet, betont die Familie.
Doch nichts passierte. Anfang Juli 2025 ist die rechtlich zulässige Maximaldauer der Untersuchungshaft von 14 Monaten abgelaufen. Djemali sitzt trotzdem nach wie vor im Gefängnis. Ein neuer Verhandlungstermin sei bis jetzt nicht angesetzt. Das Schweizer Aussenministerium (EDA) erklärte auf Anfrage von Swissinfo, es verfolge «die Entwicklung dieses Falls aufmerksam». Weiter habe sich «die Schweizer Botschaft in Tunesien und die EDA-Zentrale in Bern (…) auf sehr hoher Ebene bei den tunesischen Behörden» für Djemali eingesetzt. Aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutz des Inhaftierten könne man konkrete Fragen zum Fall jedoch nicht beantworten.
Entsprechend geht das EDA auch nicht spezifisch auf die Vorwürfe von Djemalis Familie ein, die Swissinfo dem Aussenministerium geschildert hat. In Antwort auf eine Frage eines Nationalrats präzisierte der Bundesrat Anfang Juni nur, dass der Fall «zwischen [dem Schweizer Aussenminister] Bundesrat Cassis und seinem tunesischen Amtskollegen» thematisiert wurde.
Während sich nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen für Mustapha Djemali eingesetzt haben, beklagt die Familie das mangelnde Engagement der Schweizer Behörden und des UNHCR.
Nur zwei Mal, zuletzt im November, habe die Botschaft Djemali in Haft besucht, so die Familie. «Sie nehmen das nicht ernst genug. Wir haben den Eindruck, dass sie einfach nur abwarten, bis es vorbei ist», sagt Tochter Yusra.
Vorwürfe an Behörden
Nachdem sie lange auf die sanfte Diplomatie der Schweiz hinter den Kulissen vertraut hatten, sind die Angehörigen dieses Jahr an die Öffentlichkeit gegangen. «Wir fordern ja nicht, dass die Schweizer Regierung offen die tunesische attackiert. Aber die Untersuchungen haben nichts ergeben, die Finanzen sind in Ordnung, die Akte ist leer. Es gibt keine Anklage und die Dauer der U-Haft ist überschritten. Da müssen sie doch fragen, warum ihr Staatsbürger noch in Haft ist», so Fadhel Djemali. Jetzt könne nur noch ein direkter Kontakt zwischen Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter und Tunesiens Präsident Kais Saied helfen, fordert er.

Ebenso wie über die Schweizer Behörden ärgert sich die Familie über das mangelnde Engagement des UNHCR. Dieses hätte den Fall zu Beginn schnell aufklären können, ist Fadhel Djemali überzeugt. Swissinfo hat den Ärger und die Vorwürfe der Familie Djemali gegenüber dem UNHCR geschildert. In der Genfer UNHCR-Zentrale äussert man sich zurückhaltend. Man betone, «dass das UNHCR den Fall von Herrn Djemali weiterhin aufmerksam verfolgt und auf höchster Ebene mit seiner Familie in Kontakt steht. Das UNHCR ist weiterhin entschlossen, eine konstruktive Rolle bei der Suche nach einer positiven Lösung für die Situation von Herrn Djemali zu spielen», so ein Sprecher gegenüber Swissinfo.
«Das ist skandalös», echauffiert sich Fadhel Djemali. Er habe vom UNO-Flüchtlingshilfswerk keinerlei Informationen über dessen Engagement erhalten. Im Gegensatz zum Hochkommissariat für Menschenrechte habe das UNHCR die Familie nie von sich aus kontaktiert. Dabei trage das UNHCR die Hauptverantwortung, habe das fragliche Projekt initiiert und finanziert. «Sie wurden nur verschont, weil sie Diplomatenstatus haben.» Und sein Vater müsse das jetzt ausbaden.
Editiert von Benjamin von Wyl

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