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“La Traviata” zwischen Bahngeleisen und Pendlerstrom

SF/Markus Bertschi

Eine der beliebtesten Opern nicht im Opernhaus, sondern im Zürcher Hauptbahnhof: Das Schweizer Fernsehen inszeniert Giuseppe Verdis Meisterwerk am Dienstag zwischen Cafés, Kiosken und Perrons, inmitten von hunderttausenden Pendlern.

Alltagsrealität und grosse Kunst sollen verschmelzen, wenn das Schweizer Fernsehen (SF) am 30. September “La Traviata” von Giuseppe Verdi im Hauptbahnhof Zürich aufführt und sendet.

Moderatorin Sandra Studer präsentiert die Live-Sendung ab 20.05 Uhr zeitgleich auf SF 1, HD suisse und dem deutsch-französischen Kultursender Arte. Die Sendung wird auch im Internet übertragen (Live-Stream, auch auf swissinfo).

Arte, die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und das Opernhaus Zürich arbeiten bei der Produktion dieses Kulturevents mit SF zusammen.

Diese Idee entstand bei einem Treffen zwischen SF-Direktorin Ingrid Deltenre und SBB-Chef Andreas Meyer, wie Willi Bühler von SBB Immobilien gegenüber swissinfo sagt. Er vermarktet als Produktemanager die Zürcher Bahnhofhalle.

Der Bahnhof als Opernbühne

SF inszeniert die Oper live an verschiedenen Standorten des Zürcher Hauptbahnhofs: in der Haupthalle, in Cafés, im Gleisbereich. “Der Bahnhof wird zur Opernbühne und zum Fernsehstudio gleichzeitig – und muss natürlich zu jedem Zeitpunkt ein Bahnhof bleiben”, sagt Produzent Christian Eggenberger. “Das Fernsehpublikum zu Hause sitzt in der vordersten Reihe.”

Die Idee ist allerdings nicht neu. Für Adrian Marthaler, Regisseur der “Traviata” im Zürcher HB und früherer Kulturchef von SF 1, kam der Anstoss durch die britische BBC, welche die “Traviata” erfolgreich aus der Londoner Paddington Station übertragen hatte.

Die SBB ihrerseits möchten ihren Kunden zeigen, dass im grössten Bahnhof der Schweiz neben dem täglichen Betrieb mit über 300’000 Pendlern eine solche Veranstaltung möglich ist – ohne Störung der Passanten. “Und dass man dabei und auch zu Hause etwas Schönes erleben darf”, fügt SBB-Produktemanager Bühler bei.

Der Bahnhofbetrieb werde durch die Opernübertragung nicht beeinträchtigt, sagt Bühler. Zu einem reibungslosen Ablauf würden verschiedene Sicherheitsmassnahmen getroffen.

Von Begeisterung bis null Verständnis

Und dennoch drängt sich die Frage auf: Ist das die richtige Kulisse für die “Traviata” Verdis? “Es gibt keine bessere als den Bahnhof Zürich”, betont Willi Bühler.

“Eine grossartige Idee”, findet eine junge Pendlerin gegenüber swissinfo. “Ich bin zwar kein Opern-Fan, aber ich finde es toll. Ich werde mir kurz Zeit nehmen, ein Ohr voll zu kriegen.”

Ganz anders ein älterer Herr: “Eine Furzidee, das Gedränge im HB ist schon hektisch genug, und jetzt noch eine Opernaufführung!”

Dem widerspricht ein jüngerer Mann, der sich als Opern-Liebhaber outet: “Ich werde am Dienstag entweder im HB sein oder dann sicher zu Hause vor dem Fernseher – ein tolles Event, ich bin begeistert!”

Gar kein Verständnis hat eine ältere Dame: “So geht die Oper vor die Hunde, die ‘Traviata’ gehört nicht in den Bahnhof, sondern ins Opernhaus.” Derweil sich ein Mittelschullehrer überlegt, ob er das Event mit seiner Klasse anschauen gehen will.

Ein anderer Pendler findet, die Stadt Zürich lebe nur noch von Events – “die Leute haben langsam die Nase voll”. Ganz anderer Meinung ist ein Jugendlicher: “Events wie die ‘Traviata’ im HB machen Zürich eben gerade attraktiv.”

Oper als Event

Thomas Beck, Leiter der Abteilung Kultur von SF 1, möchte mit dem Riesenprojekt ein möglichst breites Publikum für Oper am Fernsehen begeistern. “Der Bahnhof wird dadurch zu einem klingenden, poetischen Ort – Alltag und Kunst verschmelzen”, so Beck in einem Interview mit “persönlich.com”.

Der HB Zürich sei nicht nur das Zentrum der grössten Schweizer Stadt, “sondern auch die Verkehrsschlagader, das Herz der gesamten Schweiz”, so Beck. “Mitten in dieses urbane Herz der Schweiz schlägt die Oper wie ein Meteorit ein und hinterlässt Spuren.”

Breites Publikum für Oper begeistern

Das Schweizer Fernsehen als Opernveranstalter. Kann grosse Kultur nur so fernsehgerecht inszeniert werden? Thomas Beck würde niemals sagen, man könne sich nur auf diese Weise im Medium Fernsehen mit Kultur beschäftigen.

Aber: “Die Herausforderung war für uns, eine fernsehgerechte Form zu finden, Oper zu transportieren, eine Form, die nur im Medium Fernsehen und nirgendwo sonst möglich ist.”

Beck ist jedenfalls froh, dass sich so viele Menschen für Oper begeistern können. Die Oper habe übrigens schon immer etwas “Ereignishaftes” in sich, “sei es im Barocktheater oder in den Bühnenweihfestspielen Richard Wagners”.

Er habe den Eindruck, dass Oper zur Zeit so populär sei wie schon ganz lange nicht mehr. “Und das hat sicherlich auch etwas mit diesem glänzenden Gemeinschaftserlebnis zu tun.”

swissinfo, Jean-Michel Berthoud, Zürich

“La Traviata” von Giuseppe Verdi (“Die vom Wege Abgekommene”) gehört zu den beliebtesten Opern überhaupt. Verdi hat die Oper 1853 komponiert. Das Libretto hat Francesco Maria Piave geschrieben.

Erzählt wird die Geschichte der Edelprostituierten Violetta Valery, welche die wahre Liebe entdeckt. Um den Ruf ihres Geliebten Alfredo Germont nicht zu gefährden, verzichtet sie auf Drängen von dessen Vater auf ihr Glück und erliegt bald darauf ihrer unheilbaren Krankheit.

Den Klangkörper der “Traviata” im Zürcher Hauptbahnhof bilden Ensemble, Chor und Orchester des Opernhauses Zürich, unter der Leitung von Paolo Carignani. In der Titelpartie der Violetta ist Eva Mei zu erleben, Vittorio Grigolo singt Alfredo und Angelo Veccia die Partie des Giorgio Germont.

Der italienische Dirgent Carignani war von 1999 bis 2008 Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt. Er dirigierte unter anderem an der Wiener und an der Münchner Staatsoper, am Royal Opera House Covent Garden in London, beim Glyndebourne Festival, an der Deutschen Oper Berlin und an der Opéra de la Bastille in Paris.

Die italienische Sopranistin Mei gehört seit vielen Jahren zu den populärsten Ensemble-Mitgliedern des Zürcher Opernhauses. Sie sang zudem grosse Partien an der Mailänder Scala, an der Wiener Staatsoper, an der Bayerischen Staatsoper in München, am Teatro La Fenice in Venedig und am Royal Opera House Covent Garden in London.

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