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Wenn Eltern trinken, leiden die Kinder

Kleines Velo neben Weinflaschen
In der Schweiz leben 100'000 Kinder mit einem alkoholkranken Elternteil. swissinfo.ch

Alkoholismus von Eltern kann schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der Kinder haben. Damit diese nicht ebenfalls in die Spirale von Abhängigkeit oder psychischer Erkrankung geraten, darf Alkoholismus kein Tabu mehr sein. Zwei Kinder von abhängigen Eltern erzählen ihre Geschichte, um anderen zu helfen.

In der Schweiz wachsen rund 100’000 Kinder mit einem alkoholkranken Elternteil auf. Diese Kinder haben ein sechsmal höheres Risiko, selbst eine Sucht oder psychische Störung zu entwickeln. Zahlen, die den Ernst des Problems zeigen.

Hinter den Statistiken verbergen sich schwierige Lebensgeschichten und stilles Leiden. Viele Kinder schweigen über ihre Not, um ihre Eltern zu schützen, oder aus Scham- oder Schuldgefühlen. Sucht SchweizExterner Link organisierte eine nationale Aktionswoche, um diesen Kindern eine Stimme zu geben. 

“Ich hatte Angst, dass mein Vater meine Mutter umbringt.”

Sandra Leu* gehört zu jenen, die den Mut hatten, das Schweigen zu brechen. Ein Schweigen, das lange Zeit das Drama ihrer Kindheit verbarg. “Von aussen gesehen waren wir die perfekte Familie”, erzählt die inzwischen 40-Jährige. Ihr Vater war ein angesehener Mann, der es trotz seiner Alkoholsucht immer schaffte zu arbeiten. Ihre Mutter litt an Depressionen. Leu musste selbst zurechtkommen, mit der ständigen Angst im Magen. Um ihre Eltern zu schützen, schwieg sie über die Aggressivität, die Schläge und sogar die sexuellen Übergriffe ihres Vaters.

Um ihrer Familie nicht noch mehr Probleme zu bereiten, isolierte sie sich. “Ich konnte keine Freunde nach Hause einladen. Und ich hatte das Gefühl, dass ich da sein musste, weil ich Angst hatte, dass mein Vater meine Mutter töten würde”, sagt sie. Das kleine Mädchen versuchte, zwischen ihren Eltern zu vermitteln. Tief in ihr steckte ein Gefühl der Schuld. Sie dachte, dass dies alles wegen ihr passierte.

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Trotz der Gewalt beschreibt Sandra Leu ihren Vater als “liebevoll”. “Er war auch mit einem alkoholkranken Vater aufgewachsen. Er selbst war in Not”, sagt sie. Im Alter von 12 Jahren stellte sie ihm die Frage: Kannst du nicht aufhören zu trinken? “Wenn du nur wüsstest…”, antwortete er und drückte damit sein Gefühl der Hilflosigkeit aus. Worte, die nicht alles entschuldigen, meint Leu, und die vor allem keine Erleichterung brachten.

Sandra Leu litt später unter den Folgen der Misshandlungen. Einige Jahre nach dem Tod ihres Vaters durch Alkoholismus, als sie bereits verheiratet war und drei Kinder hatte, geriet sie in eine Depression. Heute kann sie sich den Dämonen stellen. Sie ist Kindergärtnerin geworden und engagiert sich für das Wohl ihrer Schülerinnen und Schüler. “Ich versuche, sie zu unterstützen, damit sie normal aufwachsen können.”

Personne avec un verre de bière et une cigarette.
Reuters

“Ich musste Verantwortung tragen, die ein Kind nicht tragen sollte”

Nina* hatte Glück im Unglück und fand Unterstützung und vor allem einen Ort zum Reden. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als Nina noch sehr klein war. Die inzwischen über 30-jährige wuchs bei einer alkoholkranken Mutter auf. “Ich habe nicht immer verstanden, was los war, aber ich habe bemerkt, dass es meiner Mutter nicht gut ging”, erinnert sie sich.

In Bereichen, in denen Kinder für gewöhnlich von ihren Eltern begleitet werden, war Nina allein: “Ich musste eine Menge Verantwortung übernehmen, die ein Kind nicht übernehmen sollte. Ich war oft allein zu Hause.” Trotz der Schwierigkeiten liess sich das Mädchen nicht von der Angst überwältigen. “Ich hielt die Situation nicht für ein Problem. Für mich war es normal.”

Im Alter von sechs Jahren wurde sie in einer Pflegefamilie platziert. Ironie des Schicksals: Ein Pflegeelternteil erweist sich ebenfalls als Alkoholiker. “Diese Sucht sah ich nicht mit den gleichen Augen wie jene meiner Mutter. Denn der Kontext war anders: Ich war nicht allein, ich hatte auch einen gesunden Elternteil und Brüder.”

Ein Jahr später wurde sie in einer anderen Familie platziert. Dort fühlte sie sich wohler, die Familie gab ihr Stabilität. “Mein Umfeld, also meine Tanten und Grosseltern, haben meine Pflegeeltern gut integriert, was mir sehr geholfen hat.” Mit guter Unterstützung ihrer Familie konnte Nina auch den Kontakt zur Mutter halten. “Sie war nicht nur eine Frau mit Suchtproblemen, die ihre Tochter ein wenig vernachlässigte. Sie hat mir auch viel gebracht. Ich habe viel von ihr gelernt, besonders Humor und Kreativität.”

Obwohl Nina Hilfe bekam und mit ihrer Pflegefamilie über die Sucht ihrer Mutter sprechen konnte, spürt sie, dass ihre Kindheit Spuren hinterlassen hat: “Ich habe die Tendenz, viel Verantwortung zu übernehmen, manchmal zu viel. Ich habe oft die Bedürfnisse anderer über meine eigenen gestellt. Eine Funktionsweise, die mir im Erwachsenenleben Schwierigkeiten bereitet hat.” Die Platzierung in einer Pflegefamilie war eine Herausforderung, half aber auch, die Bindung zwischen Mutter und Tochter zu erhalten. “Ich habe immer mit meiner Mutter Kontakt gehalten, und wir haben heute eine ausgezeichnete Beziehung”, sagt Nina.

“Es ist einfach, wegzuschauen”

Die Fremdplatzierung eines Kindes kann manchmal notwendig sein, ist aber nicht immer die beste Lösung. “Das Wichtigste ist, dass Kinder von abhängigen Eltern in einer geschützten Umgebung, manchmal auch ohne die Eltern, sprechen und ihre Bedürfnisse ausdrücken können”, erklärt die Kinder- und Jugendpsychologin Renate Bischel.

Die Fachleute arbeiten auch mit dem Umfeld. “Der gesunde Elternteil, ein Götti oder eine Gotte, ein Grosselternteil oder Nachbar können Unterstützung leisten. Wir sprechen auch mit der Schule, um das Verständnis zu fördern und Hilfe zu erhalten”, erklärt die Psychologin. Manchmal ist es auch möglich, einen Dialog mit dem abhängigen Elternteil zu führen, um Behandlungsoptionen zu erkunden.

Die Herausforderung besteht darin, problematische Familiensituationen frühzeitig zu erkennen. Und um dies zu erreichen, muss das Tabu gebrochen werden, das Alkoholismus noch immer umgibt. “Die meisten Kinder sagen mir, dass sie niemandem von der Sucht ihrer Eltern erzählen. Hingegen sprechen sie viel leichter über andere Probleme”, sagt Bichsel.

Behörden und Spezialisten auf diesem Gebiet fordern jeden auf, aufmerksam zu sein hinsichtlich Suchterkrankungen innerhalb von Familien. Sucht Schweiz gibt auf der Website Tipps, was man tun soll, wenn man ein Kind in Schwierigkeiten sieht. “Es ist leicht, wegzuschauen, aber wir alle haben die Pflicht, aufmerksam zu sein”, sagt Franziska Teuscher, Gemeinderätin der Stadt Bern.

*Namen der Redaktion bekannt

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