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Kopiert die Schweiz Englands Sünden? Immobilienexperte warnt vor einem Irrlauf in der Wohnbaupolitik

Eine Pferdeskulptur steht hoch oben auf einem Zürcher Gebäude am Abgrund.
Steht der Wohnbau am Abgrund? – Die Skulptur auf der Neubausiedlung Tramdepot Hard. Für die von der Stadt Zürich gebauten Wohnungen gingen 15'000 Bewerbungen ein. Keystone / Michael Buholzer

Die Schweiz ist drauf und dran, im Wohnungsbau die Fehler Englands zu wiederholen, sagt der an der London School of Economics beschäftigte Schweizer Immobilienökonom Christian Hilber. Nur in einem Punkt sieht er die Schweiz auf dem richtigen Weg.

«England muss den Umweltschutz und das Bedürfnis der Menschen nach Wohnraum wieder ins Lot bringen.» Es sind ungewohnte und deutliche Worte, mit denen Premierminister Keir Starmer in England die Housing Crisis adressiert hat.

Seine Labour-Regierung hat unlängst einen detaillierten Plan vorgelegt, wie sie die prekäre Lage am Immobilienmarkt korrigieren will. Das ambitionierte Ziel: Jedes Jahr sollen 370’000 neue Wohneinheiten bewilligt werden, davon allein 87’000 in London. Zuletzt gab es in England in den 1970er-Jahren so viele Neubauten.

Eine Wohnungskrise hat auch die Schweiz, mit vielen Parallelen. Wie England hat sie die Bodennutzung stark begrenzt – seit der letzten grossen Revision des RaumplanungsgesetzesExterner Link vor elf Jahren wird de facto kein neues Bauland mehr eingezont.

Wie England will die Schweiz Naturräume erhalten und der Zersiedlung einen Riegel schieben. Und wie in England wird auch in der Schweiz zu wenig gebaut, um die Arbeitsmigration und das damit zusammenhängende Bevölkerungswachstum aufzufangen.

Christian Hilber, der Professor für Wirtschaftsgeografie ist ein Experte für Wohnungskrisen.
Christian Hilber, Professor für Wirtschaftsgeografie zVg

Christian Hilber, Immobilienökonom und Professor für Wirtschaftsgeografie an der London School of Economics, beobachtet die Entwicklung mit wachsender Sorge.

Er hat 2024 eine unter anderem von der Bank UBS und vom Beratungsunternehmen Wüest Partner unterstützte Teilzeitprofessur an der Universität Zürich übernommen. Sein Auftrag: Die Wohnraumversorgung in der Schweiz zu durchleuchten. Wir haben ihn zum Gespräch getroffen.

Swissinfo: In der Schweiz gibt es kaum mehr leerstehende Wohnungen, und die Preise für Häuser sind auf ein Niveau gestiegen, das sich vier Fünftel der Bevölkerung nicht mehr leisten können. Was passiert da gerade?

Christian Hilber: Was wir in der Schweiz sehen, ist eine Kombination aus einer starken Nachfrage nach Wohnraum – nach Wohneigentum wie auch nach Mietwohnungen – und gleichzeitig einer Angebotsentwicklung, die seit ungefähr Mitte der 2010er-Jahre zunehmend unflexibel ist.

Die Wohnbaupolitik in der Schweiz wurde in dieser Zeit neu ausgerichtet, die Bodennutzung beschränkt. Sehen Sie darin den Hauptgrund für die aktuelle Entwicklung?

Ich muss hier etwas weiter ausholen. Die Schweiz ist stark föderalistisch aufgebaut. Die Kombination der Steuerautonomie und einer Raumplanung mit weitreichender Gemeindeautonomie hat zur Zersiedelung geführt.

Die Gemeinden hatten jahrzehntelang starke Anreize, Land einzuzonen, speziell um gute Steuerzahler anzuziehen. Plakativ gesagt: Jeder wollte Roger Federer haben.

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Die zunehmende Zersiedlung erzeugte aber auch politischen Druck, der in der Zweitwohnungsinitiative mündete: Eine knappe Mehrheit entschied 2012, in den Bergen den Bau von Zweitwohnungen zu beschränken. 2013 folgte dann die Revision des Raumplanungsgesetzes: Die Autonomie der Gemeinden wurde in der Bodenpolitik stark beschränkt.

Auch das war der politische Wille einer Mehrheit in der Schweiz, das revidierte Raumplanungsgesetz wurde mit über 60% Ja-Stimmen, angenommen.

Ja, aber die Auswirkungen wurden völlig unterschätzt. Man fängt aber jetzt erst an, das zu sehen. Ich würde behaupten, die Schweiz hat im Moment im Grossen und Ganzen noch keine Wohnungskrise.

Die Zahlen sagen etwas anderes: Die Leerstandsquote dürfte im laufenden Jahr gesamtschweizerisch unter ein Prozent fallen, damit herrscht flächendeckend Wohnungsnot. Ein durchschnittliches Einfamilienhaus in der Stadt Zürich kostet rund 3,3 Millionen Franken.

Trotzdem ist die Wohnungsnot nicht vergleichbar mit jener im Südosten von England oder in London. Es stimmt, dass die Preise von Wohneigentum sehr hoch sind in der Schweiz, man muss das aber nicht nur zum Einkommen ins Verhältnis setzen, sondern auch zu den Kreditkosten. Die Hypothekarzinsen in der Schweiz sind tief, das senkt die monatliche Belastung.

In England bekommen Sie kaum eine Hypothek unter 4,5%. Auch die Mieten sind im Vergleich zu England immer noch sehr zahlbar, damit meine ich die Durchschnittsmieten, nicht die Neumieten.

Und ich meine auch nicht alle Lagen. Natürlich sind gewisse attraktive Quartiere wie das Zürcher Seefeld sehr teuer geworden, da gibt es eine starke Nachfrage und ein limitiertes Angebot.

Zahlen, Fakten, Zukunftsperspektiven. Lesen Sie hier unser Erklärstück zur Schweizer Wohnungsnot:

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Die Schweiz ist ein Land der kurzen Wege und hat einen ausgebauten öffentlichen Verkehr. Macht auch das einen Unterschied?

Man kann 40 Minuten aus Zürich rauspendeln, und schon gibt es sehr erschwinglichen Wohnraum, insbesondere zur Miete. Das ist zu London ein extremer Unterschied.

Um mein Beispiel zu nehmen: Ich habe eine Stunde Pendelzeit. Und wenn ich pendle, dann muss ich stehen. Ich kann auf dem Weg unmöglich arbeiten. Dabei bin ich eigentlich privilegiert. Das Quartier, in dem ich wohne, ist für die meisten unerschwinglich.

Es ist aber nicht der Verkehr, der den Hauptunterschied macht. Das Hauptproblem ist die Angebotsseite, das Fehlen von Wohnraum. Die Schweiz geht hier in die Richtung von England, sie ist aber noch etwa 20 Jahre hinterher.

Was hat England im Rückblick falsch gemacht?

In England gibt es ein dysfunktionales Planungssystem. In der Schweiz hat man definierte Bauzonen, die Wohnraum erlauben oder Gewerbenutzungen. In England ist das nicht so. Jede Nutzungsänderung von Land muss von den lokalen Behörden bewilligt werden.

Anders als in der Schweiz ist England zudem sehr zentralistisch organisiert, und zwar auch fiskalisch. Das bedeutet: Während es in der Schweiz starke Anreize gibt, einzuzonen, ist das in England nicht attraktiv. Einzonen kostet zuerst einmal nur Geld, man muss die Infrastruktur ausbauen, bekommt aber erst spät und nur wenig Geld zurück.

Es gibt also keine Anreize, um das Bauen zu fördern. Und die lokale Bevölkerung will auch keine Bautätigkeit. Die Mehrheit der Menschen sind Hausbesitzer. Sie sind NIMBYs. Der Begriff steht für „Not In My Backyard“. Niemand will, dass bei ihm gebaut wird. Und die lokale Politik tut, was die Bevölkerung will.

Wie wirkt sich der Heimat- und Landschaftsschutz aus?

In England sind alle grossen Städte von grosszügigen Grüngürteln umgeben. Darin darf nicht gebaut werden. Dazu gibt es in grossen Städten Höheneinschränkungen und einen sehr gut ausgebauten Denkmalschutz.

Die Städte können also nicht nach aussen wachsen, sie können nicht in die Höhe wachsen, und man kann viele Gebäude nicht ersetzen, also nicht verdichten.

Rund 70% der Londoner Innenstadt stehen unter Denkmalschutz. Das alles macht Immobilien unerschwinglich für die meisten Leute und hat mit zur heutigen Krise geführt.

Was bedeutet das für die Menschen?

Eine Parallele zur Schweiz sind die Betroffenen: Personen mit kleinen Einkommen und Junge. Es gibt einen Generationengraben. Die älteren Menschen haben vor langer Zeit gekauft, sie profitieren von der Wertsteigerung. Die Jungen können sich kein Eigentum mehr leisten und müssen auf den Mietermarkt – der in England extrem teuer ist.

Viele Junge geben mehr als 50% des Einkommens für die Miete einer Wohnung aus. Andere leben lange bei den Eltern oder in WGs. Viele Zuwanderer teilen ihren Wohnraum, manchmal leben ein Dutzend Menschen in einer kleinen Wohnung.

In der Schweiz können sich vier Fünftel der jüngeren Generationen kein Wohneigentum mehr leisten. Lesen Sie dazu:

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In den grossen Schweizer Zentren wie Zürich geht die Entwicklung im einkommensschwächsten Quintil in eine ähnliche Richtung.

Ja, das kommt in der Schweiz immer mehr. Aber der Mietzins ist hier reguliert. Wer schon eine Wohnung hat, ist geschützt. Schwierig ist die Situation für Junge und Zuwanderer oder jene, die gezwungen werden, eine Wohnung zu wechseln.

Wie bewerten Sie – im Vergleich – das Schweizer Mietrecht?

In England gibt es zwar sozialen Wohnungsbau, aber keine Regulierung des privaten Mietermarktes – so wie in vielen angelsächsischen Ländern. Mieterinnen und Mieter sind komplett ohne Schutz, deshalb will niemand mieten. Meine Einschätzung ist, dass die Schweiz die Regulierung des Mietermarktes eigentlich gut gelöst hat.

Andernorts, etwa in Deutschland, gibt es Regulierungen, die kontraproduktiv sind und dazu führen, dass Vermieter keine Anreize zum Bauen oder Renovieren mehr haben. Die Schweiz hat den Sweet Spot der Mietzinsregulierung gefunden, sie schützt Mietende, übertreibt es aber nicht.

Steht die Schweiz mit ihrer Neubautätigkeit besser oder schlechter da als England?

In der Schweiz wird heute, gemessen an der Bevölkerung, immer noch mehr als doppelt so viel gebaut wie in England. Aber ja, der Druck wächst.

Was viele noch nicht verstanden haben, ist, dass das Raumplanungsgesetz den Markt auf der Angebotsseite unflexibel gemacht hat. Dafür gibt es keine einfache Lösung, ausser man würde die Raumplanung fundamental ändern.

Die Schweizer Politik setzt stattdessen auf innere Verdichtung – mit mässigem Erfolg.

Innere Verdichtung ist ein gutes Ziel, aber es gibt zu viele Einsprachen. Auch die Schweizer sind NIMBYS. Wenn die innere Verdichtung leicht umzusetzen wäre, hätte die Revision der Raumplanung funktioniert.

Auch die Stadt Zürich scheitert bisher an der inneren Verdichtung, mit spektakulären Folgen. Lesen Sie dazu:

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Gibt es dafür keine Lösung?

Wenn man die Anwohner am Mehrwert einer dichteren Bebauung – etwa durch eine Aufstockung – beteiligt, kann die innere Verdichtung funktionieren.

Schweizer Städte wollen den Mehrwert lieber sozialisieren, indem sie einen Anteil gemeinnütziger Wohnungen festschreiben.

In England gibt es dieses Modell auch, und es hat für die Immobilienentwickler extreme Unsicherheit kreiert. Gemeinnützige Wohnungen – das klingt eigentlich gut, löst aber das Problem nicht.

Es gibt immer Insider und Outsider. Die Insider sind Wohneigentümer und Genossenschafter, das sind die, die das Glück haben, eine solche Wohnung zu erhalten.

Die Outsider sind die, die dieses Glück nicht hatten. In England sind es oft nicht die Bedürftigsten, die die Sozialwohnungen bekommen, sondern es sind diejenigen, die verstehen, wie man das System für seine Zwecke nutzt.

Das führt in eine noch viel schlimmere Zweiklassengesellschaft. In England gibt es den sozialen Wohnungsbau, aber auch eine der höchsten Obdachlosenraten der Welt.

Was sollte man denn stattdessen tun?

Wenn man das Problem wirklich angehen will, gibt es nur ein Mittel: Man muss mehr bauen und am richtigen Ort.

Die englische Regierung hat nun vor, mit einer grossen Reform die Neubauquote zu vervielfachen und dafür auch Land in den Grüngürteln freizugeben. Finden Sie dieses Abrücken vom Landschaftsschutz ist der richtige Weg?

Natürlich muss man gewisse Grünflächen und gewisse Gebäude schützen und schauen, wie man die innere Verdichtung voranbringt. Aber die Green Belts zum Beispiel um Oxford und London haben keine grosse ökologische Wirkung.

Es sind bewirtschaftete Flächen, und viele Menschen müssen ausserhalb dieser Grüngürtel leben und weit in die Stadt pendeln, das ist überhaupt nicht ökologisch.

Und in der Schweiz: Braucht es eine baufreundliche Revision der Raumplanung?

Die Schweiz hat im Rückblick vieles richtig gemacht. Ich sage das als jemand, der zu England und den USA geforscht und die Immobilienpolitik verschiedener Länder untersucht hat. Mit der Verschärfung der Raumplanung 2013 hat die Schweiz sich aber längerfristig eine Erschwinglichkeitskrise eingehandelt.

Im Moment gibt es noch wenige Härtefälle, vor allem dank des Mietmarktes, der immer noch gut funktioniert. Es gibt keine offene Obdachlosigkeit.

Wenn es dazu kommt, wird die Frage sein, ob die direkte Demokratie Gegensteuer gibt. Vieles spricht dafür, dass 2030 bis 2035 Initiativen kommen, die Wohnraum wieder zugänglicher machen wollen. Aber es wird schwierig, die Raumplanung umzudrehen.

Ich rechne eher damit, dass sich die Probleme in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren weiter akzentuieren.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Marc Leutenegger

Welche Erfahrungen haben Sie mit Wohnungsnot und steigenden Immobilienpreisen gemacht?

Die Schweiz schlittert kopfüber in eine Wohnungskrise. Wie lässt sich das noch verhindern? Ihre Ideen sind gefragt.

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