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Wie die Schweiz dem Arbeitskräftemangel begegnen will

Drei Pflegefachfrauen waschen sich die Hände
Zu wenig Personal, zu grosse Auslastung: Die Pandemie zeigte die Defizite im Gesundheitswesen schonungslos auf. Keystone/ Mauro Fermariello


Verschiedenen Studien zufolge werden bis 2040 auf dem Schweizer Arbeitsmarkt mehrere hunderttausend Menschen fehlen. Wie kann sichergestellt werden, dass die Züge fahren und die Krankenhäuser weiter funktionieren?

Seit dem Ende der Covid-Pandemie ist der Arbeitsmarkt noch stärker von dieser klaffenden Lücke betroffen. Viele Unternehmen haben Schwierigkeiten, Personal einzustellen, um der erhöhten Nachfrage gerecht zu werden.

Obwohl die Inflation in den letzten Monaten die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-Pandemie und damit den Bedarf an Arbeitskräften etwas gedämpft hat, waren Ende 2023 laut den jüngsten ErhebungenExterner Link des Bundesamts für Statistik (BFS) immer noch mehr als 110’000 Stellen unbesetzt.

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Und das Phänomen wird sich voraussichtlich weiter verstärken. Laut den Wirtschaftsverbänden werden 2040 voraussichtlich rund 430’000 Personen auf dem Arbeitsmarkt fehlen, was hauptsächlich auf die demografische Entwicklung zurückzuführen ist.

Der Zustrom junger Menschen wird nämlich nicht reichen, die steigende Zahl der Renteneintritte der Arbeitnehmer:innen aus der sogenannten Babyboomer-Generation auszugleichen. Andere Studien, wie die des Verbands Angestellte Schweiz, zeichnen ein noch viel düstereres Bild. Sie gehen davon aus, dass im Jahr 2035 auf dem Schweizer Arbeitsmarkt fast 1,2 Millionen Arbeitskräfte fehlen könnten.

Die Schweizer Behörden räumen ein, dass die Unternehmen immer stärker um Arbeitskräfte konkurrieren werden. Sie mahnen jedoch dazu, mit diesen Zahlen vorsichtig umzugehen und die Situation nicht zu dramatisieren.

«Dieser demografische Effekt wurde und wird wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad durch die Zuwanderung abgemildert. Generell ist es nicht einfach, die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu extrapolieren, da sich dieser ständig verändert», sagt Françoise Tschanz, Sprecherin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).

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Ein liberaler Ansatz zur Bekämpfung

Auch auf globaler Ebene gibt es keine detaillierten Statistiken über das Ausmass des Phänomens und seine künftige Entwicklung. Sicher ist: Viele Länder – nicht nur im Westen – müssen die Ärmel hochkrempeln, um die Stellen zu besetzen, die aufgrund des demografischen Übergangs und der Alterung der Bevölkerung frei werden.

«Bisher betraf dieses Problem vor allem die reichen Länder. Aber der Mangel an Arbeitskräften wird allmählich auch für einige Schwellenländer zu einer Herausforderung», sagt Ekkehard Ernst, Leiter der Abteilung Makroökonomie bei der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in Genf. «Ich denke da vor allem an China, das Schwierigkeiten hat, Arbeitskräfte für seinen Agrarsektor zu finden. Mit der Alterung der Weltbevölkerung wird sich dieses Phänomen unweigerlich verschärfen.»

In den Augen der Schweizer Regierung sind aber keine besonderen staatlichen Eingriffe erforderlich, um Engpässe in Schlüsselbereichen wie Gesundheit, Energie oder Verkehr zu vermeiden.

«Der Arbeitsmarkt funktioniert sehr gut. Die duale Berufsausbildung ist ein besonderer Pluspunkt, da sie sich ständig an die Bedürfnisse der Unternehmen anpasst. Zudem ist das Bildungsniveau in der Schweiz hoch und in den letzten Jahren weiter gestiegen», so Françoise Tschanz.

Mit diesem entschieden liberalen und optimistischen Ansatz ist die Schweiz bislang gut gefahren. Dies jedoch nur dank der massiven Zuwanderung von Arbeitskräften, hauptsächlich aus den Ländern der Europäischen Union.

Seit 2002 und dem Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit ist die Bevölkerung des Landes um 20% auf 9 Millionen Menschen gewachsen. Ein rasantes Bevölkerungswachstum, das in Europa seinesgleichen sucht.

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Familien unterstützen und länger arbeiten

Die meisten Expertinnen und Experten sind sich einig, dass sich der internationale Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte verschärfen wird. Und trotz ihrer hohen Löhne und eines bei Auswanderer:innen beliebten Lebensumfelds ist die Schweiz in diesem Rennen um die besten Hände und Köpfe nicht am besten aufgestellt, sagt Arbeitsmarktexperte Rafael Lalive, Professor an der Universität Lausanne.

«Wir sind nicht wettbewerbsfähig, wenn es um die Qualität der Familienfreundlichkeit geht. Frankreich, Deutschland und Italien haben viel bessere Kinderbetreuungssysteme. Die Schweiz verschenkt damit ein Arbeitskräftepotenzial, das in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird, nämlich qualifizierte Frauen mit Kindern», betont der Experte.

In den Augen von Lalive sollte der Staat eine viel stärkere Rolle bei der Unterstützung der Familienpolitik spielen, die heute von einigen als «Stiefkind der Sozialpolitik» in der Schweiz bezeichnet wird.

Parallel dazu plädiert der Arbeitsmarktexperte für eine flexible Erhöhung des Rentenalters, insbesondere für Menschen in Berufen, die keine körperliche Einschränkungen zur Folge haben. Obwohl unpopulär, würde dieser Schritt, der in vielen Ländern bereits vollzogen wurde, einen grossen Teil des fehlenden Angebots auf dem Schweizer Arbeitsmarkt füllen.

Von Google zur Energiewende

Als Verfechter des Nichtinterventionismus ist das Seco seinerseits der Ansicht, dass der technologische Fortschritt es den Unternehmen ermöglichen wird, die gleiche Leistung mit weniger Arbeitskräften zu erzielen.

Ein Postulat, das Ekkehard Ernst nicht überzeugt. «Es ist ein bisschen wie die Geschichte von der Schlange, die sich in den Schwanz beisst. Je weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, desto geringer ist die Möglichkeit, in produktivitätssteigernde Technologien zu investieren», sagt der IAO-Ökonom.

In Zeiten des Mangels wird die Allokation qualifizierter Arbeitskräfte zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen zu einer entscheidenden Herausforderung. «In den letzten 15 Jahren wurden neue Technologien vor allem in Bereichen entwickelt, in denen sie keine grossen positiven Auswirkungen auf wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ebene haben», betont Ekkehard Ernst. Man denke nur an Anwendungen wie Facebook, Instagram oder TikTok. Umgekehrt sind wir zum Beispiel im Baugewerbe auf das gleiche Produktivitätsniveau zurückgefallen wie in den 1950er-Jahren.»

Sollte der Staat also beispielsweise Zürcher Ingenieurinnen und Ingenieure dazu verpflichten, für eine bessere Isolierung von Gebäuden zu sorgen, anstatt die Algorithmen von Google zu entwickeln?

«Die Freiheit der Berufswahl ist ein Grundrecht. Der Staat darf nur als letztes Mittel eingreifen, um Arbeitskräfte in Bereichen einzusetzen, in denen sie dringend benötigt werden – wie es beispielsweise der Fall war, um die Krankenhäuser während der Covid-Krise am Laufen zu halten», sagt Rafael Lalive.

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Auf die Attraktivität der Stelle einwirken

Andererseits, so fügt Ekkehard Ernst hinzu, hat die öffentliche Hand eine Rolle zu spielen, indem sie Anreize – etwa via Steuern – schafft, um die Marktaktivitäten und damit die Arbeitskräfte dorthin zu lenken, wo sie gebraucht werden.

«Bei Infrastruktur- oder Mobilitätsprojekten beispielsweise könnte man so die Expertise der Tech-Giganten stärker einbinden und nutzen, ohne dass der Staat gezwungen wäre, die Wirtschaft und ihren Arbeitsmarkt im Detail fernzusteuern», betont der ILO-Ökonom.

Und wenn der Staat die Arbeitsbedingungen selbst festlegt, wie es im Gesundheitswesen und im öffentlichen Nahverkehr der Fall ist, kann er auch auf die Attraktivität des Arbeitsplatzes einwirken.

«Es müssen höhere Löhne und flexiblere Arbeitsbedingungen angeboten werden, insbesondere für Frauen. Das kostet natürlich Geld, denn niemand zahlt gerne mehr für ein Ticket im öffentlichen Verkehr oder für Krankenversicherungsprämien. Aber letztlich sind dies die einzigen Massnahmen, mit denen der Arbeitskräftemangel in diesen Sektoren wirksam behoben werden kann», so Rafael Lalive.

Editiert von Pauline Turuban. Übertragung aus dem Französischen: Giannis Mavris

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