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Warum das Studienfach Osteuropäische Geschichte so politisch ist

Menschen vor Ruinen am Sonnenbaden
Sewastopol auf der Krim im Mai 1944, der Krieg ist vorüber. Dieses Foto trägt den Titel: "Das Leben geht weiter". Akg-Images / Voller Ernst / Chaldej

Seit des russischen Angriffskriegs in der Ukraine steht die Osteuropäische Geschichte verstärkt im Fokus. Doch das Fach war schon immer stark von politischen Konjunkturen abhängig. Eine Analyse von Osteuropahistoriker Fabian Baumann.

Erzählte ich vor einigen Jahren in der Schweiz, dass ich Osteuropahistoriker bin, war die Reaktion meist verhalten. Erzähle ich es dagegen heute, ist das Interesse gross. Die meisten kommen dann sehr schnell auf den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Der Krieg ist auch nach über drei Jahren in den Medien präsent, und Osteuropahistoriker:innen melden sich in der Debatte regelmässig zu Wort. Und doch ist es für viele Leute nach wie vor überraschend, dass es dieses vermeintlich exotische Fach gibt.

Die Osteuropäische Geschichte sticht in der universitären Landschaft der deutschsprachigen Länder dadurch heraus, dass sie als geografisch definierte Teildisziplin eigene Lehrstühle und Institute besitzt. West-, süd- oder nordeuropäische Geschichte werden zwar auch erforscht und unterrichtet, sind aber nur selten institutionalisiert. Diese Sonderstellung der Osteuropäischen Geschichte lässt sich historisch erklären: Mehr als andere Fächer war und ist sie direkt vom Zeitgeschehen beeinflusst.

Der politische Blick nach Osten

Die Ursprünge der Osteuropäischen Geschichte als wissenschaftliche Disziplin reichen über hundert Jahre zurück. Einerseits bestand schon seit dem 19. Jahrhundert eine Tradition der universitären Erforschung slawischer Sprachen und Kulturen, die oft auch historische Aspekte mit einbezog. In der Schweiz war auf diesem Gebiet unter anderem Elsa Mahler tätig, die 1938 als erste Frau Professorin an der Universität Basel wurde.

Andererseits etablierten sich im frühen 20. Jahrhundert verschiedene deutsche und österreichische und Historiker als Russland- und Osteuropaexperten. Manche von ihnen wollten explizit zwischen Deutschland und Russland vermitteln. Andere standen dagegen deutschnationalen Ideen nahe, betrieben eine völkisch geprägte «Ostforschung» und propagierten die – historisch unhaltbare – These, im östlichen Europa hätten seit jeher die Deutschen als «Kulturträger» ihnen «unterlegene» Slawen dominiert.

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Entsprechend überrascht es wenig, dass in Deutschland viele Osteuropahistoriker in den Nationalsozialismus verwickelt waren. Nach dem 2. Weltkrieg wurden in Deutschland weitere Lehrstühle für Osteuropäische Geschichte eingerichtet. Deutschnational geprägte Ideen wirkten weiter, nun allerdings oftmals unter antikommunistischer Flagge.

In Bern wurde in dieser Zeit die Schweizerische Osteuropabibliothek gegründet – zunächst war sie ein Privatprojekt antikommunistischer «Kalter Krieger»; heute ist sie eine der wichtigsten Ressourcen für Osteuropaforschung in der Schweiz. Auch in den USA stand die Osteuropaforschung in den Jahren nach 1945 unter dem Motto der Feindforschung: Know your enemy! Unter den prägenden Figuren waren viele antikommunistische Emigranten aus dem östlichen Europa, etwa der aus Polen stammende Harvard-Professor Richard Pipes.

Pipes bildete zusammen mit anderen die sogenannte «Totalitarismusschule», deren Interesse vor allem der Entstehung des sowjetischen Systems galt. Zwar hatten die Historiker:innen dieser Generation oftmals erstaunliche Detailkenntnisse und verfassten durchaus wertvolle Studien, und doch wirkte ihre Annahme, dass der sowjetische Staat seine Bevölkerung fast vollständig unter Kontrolle habe, einschränkend.

Das Ende der Sowjetunion in der Forschung

Dies änderte sich in den 1970er-Jahren, als jüngere, politisch tendenziell linke Historiker:innen vermehrt Zugang zu den sowjetischen Archiven erhielten. Die Australierin Sheila Fitzpatrick wurde zur Vorreiterin dieser «revisionistischen» Generation. In ihren sozialhistorischen Studien wies sie nach, dass der Stalinismus bei aller extremen Gewalt auch tatsächlich ein soziales Aufstiegsvehikel für bestimmte Bevölkerungsgruppen war. Die revisionistische Geschichtsschreibung stand im Zeichen der Détente – der Entspannungspolitik – zwischen den USA und der Sowjetunion. Angesichts sich verbessernder Beziehungen lag es nahe, auch historisch darauf hinzuweisen, dass die Bewohner:innen der Sowjetunion nicht einfach gesichtslose Untertanen waren, sondern politisch handlungsfähige Subjekte.

Gleichzeitig wuchs mit der Perestroika langsam die Bereitschaft, über den russischen Kern der Sowjetunion hinauszugehen. Ein wichtiger Pionier war hier der Schweizer Andreas Kappeler, der ab 1982 in Köln, später dann in Wien lehrte. Kappeler forschte zunächst zu den kleinen turk- und finnischsprachigen Völkern der Wolgaregion, bevor er 1992 eine bahnbrechende Studie zu «Russland als Vielvölkerreich» vorlegte.

Menschen am diskutieren in der Sowjetunion
Der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Michail Gorbatschow bei einem Treffen mit Arbeiter:innen der Kolchose K. Marx in Usbekistan, im Jahr 1988. Ria Novosti

Er schärfte im Fach nachhaltig das Bewusstsein dafür, dass das Zarenreich und die Sowjetunion ebenso multiethnisch gewesen waren wie die Kolonialreiche westeuropäischer Staaten. Zudem gehörte Kappeler zu den ersten, die nach dem Ende der Sowjetunion die Notwendigkeit erkannten, sich mit der Geschichte der Ukraine, des nunmehr grössten Flächenstaats in Europa, zu befassen. Gemeinsam mit seinen Doktorierenden legte er die Grundlage dafür, dass nach 2014 eine breit abgestützte deutschsprachige Ukraineforschung entstehen konnte.

Trotz politisch bedingten Mittelkürzungen – schliesslich flachte das Interesse an Russland als geopolitischen Gegner ab – waren die 1990er- und 2000er-Jahre in der Osteuropäischen Geschichte in vieler Hinsicht eine Zeit des Aufbruchs. Einerseits wurden westlichen Historiker:innen plötzlich die Archive der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas zugänglich. Andererseits kamen Historiker:innen aus den ehemals kommunistischen Staaten auf einen Schlag in Kontakt mit westlichen Ideen und Perspektiven.

Die Diversifizierung eine Fachrichtung

Zwar durchliefen manche ehemaligen kommunistischen Hofhistoriker:innen nahtlos die Umschulung zum Verfassen nationalistischer Chroniken indem sie ideologisch geprägte Erzählungen einfach umkehrten. Doch insgesamt entstanden durch die gegenseitige Öffnung von Ost und West viele hervorragende Studien. Selbst in Russland schien sich zumindest die intellektuelle Debatte zu demokratisieren. Viele westliche Forscher konzentrierten sich in diesen Jahren denn auch auf die Geschichte von Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit.

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Diese Zeit des Optimismus ist in Osteuropa – und somit auch in der Osteuropäischen Geschichte – seit der Krim-Annexion 2014 vorbei. Kurz nach der Annexion forderte der deutsche Osteuropahistoriker Karl Schlögel durchaus selbstkritisch eine Umorientierung des Fachs: Weniger Fokussierung auf Russland, mehr Aufmerksamkeit für die Länder, die historisch unter dem russischen Imperialismus gelitten haben.

In den folgenden Jahren entstanden auch in der Schweiz neue Gefässe, die sich insbesondere mit der Geschichte der Ukraine befassen, etwa das ProgrammExterner Link «Ukrainian Research in Switzerland» an der Universität Basel. Auch wird an deutschsprachigen Universitäten zunehmend die ukrainische Sprache unterrichtet.

Seit der russischen Vollinvasion von 2022 diskutieren Osteuropahistoriker:innen noch intensiver über die eigene Arbeit: Zwar bestreitet kaum jemand, dass Putins Krieg in der Ukraine verbrecherisch ist, doch es herrscht Uneinigkeit über die Ausrichtung des Faches. Die Frage bleibt dabei dieselbe wie schon lange: Ist die osteuropäische Geschichte trotz der Öffnung der vergangenen Jahrzehnte immer noch zu russozentrisch? Immerhin stützten sich bis unlängst viele Arbeiten hauptsächlich auf russische Staatsarchive und auf russischsprachige Quellen.

Historikerinnen wie Botakoz Kassymbekova an der Universität Zürich und Franziska Davies an der Ludwig-Maximlians-Universität München fordern deshalb eine postkoloniale Wende im Fach, die den russischen und sowjetischen Imperialismus genauso kritisch behandelt wie den westlichen, und die verstärkt die Perspektiven der beherrschten Bevölkerungen aufnimmt.

Wie jede Geschichtsschreibung ist auch die Osteuropäische Geschichte immer politisch, und sie ist sogar besonders direkt von gegenwärtigen politischen Debatten beeinflusst. Allerdings ist das Verhältnis von Politik und Wissenschaft komplex. Die Entwicklungen innerhalb eines Fachs hängen von vielen Faktoren ab: von der Zugänglichkeit von Archiven, von geopolitischen Konflikten, von den prägenden Erlebnissen einzelner Forschergenerationen. Angesichts der politischen und militärischen Konflikte in der Region dürften die Debatten unter Osteuropahistoriker:innen engagiert bleiben.

Editiert von Benjamin von Wyl

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