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Birchermüesli: Einst Kur gegen Magenprobleme – heute Schweizer Kult

Ein Birchermüesli in einer Schale
Das Originalrezept sieht vor, einen Esslöffel Haferflocken 12 Stunden lang in drei Esslöffeln Wasser einzuweichen und anschliessend einen Esslöffel Kondensmilch, den Saft einer halben Zitrone, einen geriebenen ganzen Apfel und einen Esslöffel gehackte Walnüsse oder Mandeln hinzuzufügen. Keystone / Gaetan Bally

Heute ist das Müesli von Doktor Bircher das Symbolfrühstück der Schweizer Küche und hat die ganze Welt erobert. Doch ursprünglich rümpfte die Schulmedizin die Nase über dieses Rohkost-Rezept.

Alle kennen es, viele konsumieren es regelmässig, doch nur wenige kennen die Herkunft dieser Spezialität, die aus der revolutionären Idee eines Schweizer Arztes entstanden ist. Das Birchermüesli gehört zu den bekanntesten und verbreitetsten Schweizer Gerichten.

Fleisch galt als gesünder als Obst und Gemüse

Ende des 19. Jahrhunderts war die damalige bürgerliche Gesellschaft überzeugt, dass der Verzehr von frischem Obst und Gemüse vermieden werden sollte, um Infektionen und Verdauungsprobleme zu verhindern. Man hielt es für besser, Fleisch zu essen, das als reichhaltiger und nahrhafter galt.

Anderer Meinung war ein Schweizer Arzt: Der Aargauer Maximilian Oskar Bircher-Benner glaubte fest an die gesundheitlichen Vorteile einer Rohkostdiät und sah gekochte sowie verarbeitete Lebensmittel als schädlich an.

1895 behandelte Dr. Bircher-Benner die anhaltenden Magenschmerzen einer Patientin mit einer Diät aus rohem Gemüse. Bircher-Benner begann daraufhin, Rohkost zur Behandlung seiner eigenen Gelbsucht einzusetzen.

Auch verschrieb er sie den Patientinnen und Patienten seines 1904 am Zürichberg eröffneten Sanatoriums «Lebendige Kraft».

Ein älterer Mann mit Bart (Schwarzweiss-Aufnahme)
Der Erfinder: Maximilian Oskar Bircher-Benner. Keystone / Photopress-Archiv / STR

Die Klinik beherbergte im Lauf der Jahre berühmte Persönlichkeiten wie Thomas Mann, den König von Siam, die Zaren von Russland oder Hermann Hesse.

Laut dem Buch «Lebendige Kraft : Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext» soll Hesse das Sanatorium in Anlehnung an das strikte Gesundheitsregime Bircher-Benners als «hygienisches Zuchthaus», dem sich die Patientinnen und Patienten jedoch stets freiwillig unterwarfen, beschrieben haben.

Inspiriert von der Ernährung in den Alpen

Inspiriert von der Ernährung der Menschen in den Alpen, die abends Obst, Nüsse, Milch und Haferflocken zu sich nahmen, entwickelte Bircher-Benner ein neues Rezept für die Kundschaft seiner Klinik.

Maximilian Oskar Bircher-Benner legte Wert darauf, dass das Kernstück seiner Ernährungsphilosophie, das Birchermüesli oder «d’Spys»Externer Link (die Speise), wie er sie schlicht nannte, mit der Nahrung der Schweizer Bergbäuerinnen und Alphirten verwandt sei.

Im Volksmund wurde daraus schon bald das Birchermüesli, wobei das «e» entgegen dem Hochdeutschen «Müsli» sowohl geschrieben wie auch ausgesprochen wirdExterner Link.

Das «li» ist die typische Deutschschweizer Verkleinerungsform, in diesem Fall von «Mus», was Brei oder Püree bedeutet. Das Birchermüesli ist demnach ein «kleiner Brei von Dr. Bircher».

Durch die Vermarktung von industriell produziertem Birchermüesli ab Ende der 1950er-Jahre schaffte es das Wort «Muesli» als einzige Schweizer Speise in den Wortschatz der englischen und einiger weiteren Sprachen.

Das ursprüngliche Birchermüesli-Rezept sieht vor, einen Esslöffel Haferflocken zwölf Stunden lang in drei Esslöffeln Wasser einzuweichen und anschliessend einen Esslöffel Kondensmilch, den Saft einer halben Zitrone, einen ganzen geriebenen Apfel sowie einen Esslöffel gehackte Nüsse oder Mandeln hinzuzufügen.

Der Apfel ist die wahre Hauptzutat des Rezepts, denn er wird komplett verwendet – mit Schale und Kerngehäuse. Ursprünglich wurde das Birchermüesli darum «Apfeldiätspeise» genannt und abends gegessen.

Der Erfolg einer Pionieridee

Die Lebensphilosophie von Bircher-Benner zog viele Menschen an, vor allem aus den wohlhabenden deutschsprachigen Regionen der Schweiz, die nach einem anderen Lebensstil als dem der zunehmenden Industrialisierung suchten.

Ab den 1920er-Jahren verbreiteten sich die Ideen des Arztes in vielen europäischen Ländern, und seine Schriften wurden in verschiedene Fremdsprachen übersetzt.

Zwischen den 1930er- und 1940er-Jahren wurde das Birchermüesli Teil der Ernährungsvorlieben schweizerischer Familien und fand auch Einzug in Institutionen wie Schulen, Gefängnisse, Pflegeheime, Klöster und das Militär. Auch Müeslimischungen kamen als Produkte auf den Markt.

Frisch abgefüllte Birchermüesli auf einem Förderband
Heute sind unzählige industriell produzierte Varianten des Birchermüeslis auf dem Markt. Keystone / Christian Beutler

Als Symbol für gesunde und natürliche Ernährung erfreut sich das Birchermüesli seit der ökologischen und ernährungsbewussten Welle ab den 1980er-Jahren immer grösserer Beliebtheit.

Im Lauf der Zeit hat sich das ursprüngliche Rezept vielfältig weiterentwickelt. Heute gibt es zahlreiche Varianten, die teilweise stark vom Original abweichen. Birchermüesli wird vor allem zum Frühstück oder als Zwischenmahlzeit gegessen, manche geniessen es sogar zum Abendessen.

Viele Menschen rühren ein Birchermüesli in einem grossen Käsekessi.
Viele Köchinnen am Brei: Am 21. September 2012 bereiteten zahlreiche Freiwillige in Lausanne ein über eine Tonne schweres Birchermüesli zu, um einen neuen Weltrekord für das grösste Müesli aufzustellen. Keystone / Yannick Bailly

Heute wissen wir, dass eine pflanzenbasierte, vollwertige Ernährung gesundheitsfördernd ist. Zur Zeit von Dr. Bircher-Benner waren seine Ernährungstheorien jedoch revolutionär und wurden von der offiziellen Medizin nicht anerkannt.

Birchermüesli ist somit nicht nur ein einfaches Schweizer Erfolgsrezept, sondern das Produkt einer natürlichen Lebensphilosophie, die es geschafft hat, die Landesgrenzen zu überschreiten und über die Zeit hinweg Bestand zu haben.

Eine Bircherraffel
Übrigens: Dr. Bircher-Benner entwickelte nicht nur das Birchermüesli-Rezept, sondern gilt auch als Erfinder der Bircherraffel, mit der die Zutaten für das Müesli gerieben werden können. Keystone / Gaetan Bally

Das Originalrezept

1 Esslöffel Haferflocken, in 3 Esslöffel Wasser über Nacht einweichen

1 Esslöffel gezuckerte Kondensmilch

Saft einer halben Zitrone

2–3 kleine oder 1 grosser Apfel samt Schale und Kerngehäuse

1 Esslöffel geriebene Nüsse

Quelle: Eidgenössisches Departement für auswärtige AngelegenheitenExterner Link

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