
Aller Streit schien plötzlich klein: die Herbstsession im Rückblick

Die SVP-Initiative "Keine 10-Millionen-Schweiz" hat der Herbstsession einen aufgeladenen Redenmarathon gebracht. Auf der anderen Seite rief der Tod von Nationalrat Alfred Heer vielen in Erinnerung, wie fragil die politische Kultur der Schweiz ist. Analyse.
Die Mühlen des Parlaments mahlen langsam, auch was die Geschäfte betrifft, die für Schweizerinnen und Schweizer im Ausland relevant sind.
Bankkonto für Auslandschweizer
Allen voran ein Vorstoss um Bankkonten für Auslandschweizer: Wie aus dem Nichts hat der Genfer Ständerat Mauro Poggia dieses längst beerdigte Thema wieder aufgegriffen. Er will erreichen, dass der Bundesrat die PostFinance in die Pflicht nimmt, damit Auslandschweizer dort Konten zu fairen Konditionen führen können. In der letzten Sessionswoche verschwand die Motion wieder von der Traktandenliste – verschoben.
Doch bei der politischen Teilhabe der Auslandschweizer tut sich etwas. Der Nationalrat will elektronisch gesammelte Unterschriften für Initiativen und Referenden ermöglichen. Davon würden auch Auslandschweizerinnen und -schweizer profitieren. Bisher fanden solche Unterschriftensammlungen nur im Inland statt. Zunächst muss jedoch noch der Ständerat darüber befinden.
Die Renten im Fokus
Für Ausgewanderte und diejenigen, die eine Auwanderung planen, kann die Auszahlung von privaten Vorsorgegeldern interessant sein. Hier ändert sich etwas: Sparbeträge der privaten Altersvorsorge sollen künftig teilweise bezogen werden können, so der Wille beider Räte. Heute ist das nur aufs Mal möglich.

Schliesslich erarbeitete der Nationalrat eine Reform bei den Witwenrenten. Bisher haben Frauen ein Leben lang Anrecht auf eine Witwenrente. Verwitwete Männer erhalten hingegen nur so lange Geld, bis ihre Kinder volljährig sind.
Der Nationalrat will die Renten künftig unabhängig vom Zivilstand an den hinterbliebenen Elternteil ausbezahlen, bis das jüngste Kind 25 Jahre alt ist. Zudem hat der Nationalrat die Reform der Witwenrenten an die AHV-Baustelle «Abschaffung der Heiratsstrafe» gekoppelt. Dieser Vorschlag geht zur weiteren Beratung in den Ständerat.
Auch mit der Finanzierung der 13. AHV-Rente hat sich der Nationalrat beschäftigt. Die Mehrheit will eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer. Der Vorschlag geht so zurück zum Ständerat.
Dort hat sich derweil die Idee durchgesetzt, dass französisch-schweizerische Doppelbürger der Schweizer Armee nicht mehr so leicht entkommen können. Der Bundesrat soll dazu Verhandlungen mit Frankreich aufnehmen. Derzeit entgehen jährlich hunderte junge Doppelbürger der Rekrutenschule, da sie einen Bürgertag in Frankreich absolvieren.
Rekordzahl an Voten zur «10-Millionen-Schweiz»
Damit kommen wir zu den Volksinitiativen: Das Parlament will keine weitere Senkung der Radio- und Fernsehgebühren. Beide Räte empfehlen die SVP-Initiative «200 Franken sind genug» abzulehnen. Auch die Klimafonds-Initiative von SP und Grünen hatte im Parlament keine Chance.

Der Nationalrat spricht sich auch gegen die SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» aus. Das Thema Zuwanderung sorgte mit 115 eingetragenen Redner:innen für eine Rekordzahl an – teils emotionalen – Voten und für die längste Debatte, die das Parlament je erlebt hat. Und das ist wohl nur ein Vorgeschmack auf den Abstimmungskampf. Zunächst geht die Initiative aber noch in den Ständerat.
Ebenso empfiehlt der Nationalrat, die Initiative der Mitte zur Abschaffung der Heiratsstrafe abzulehnen. Er bevorzugt den Vorschlag des Bundesrats zur Individualbesteuerung. Dagegen haben die Kantone aber ein Referendum ergriffen. Es kommt somit zur Volksabstimmung.
Abschied von Alfred Heer
Der überraschende Tod von Nationalrat Alfred Heer hat die Session geprägt. Der Zürcher SVP-Vertreter genoss im Parlament breite Anerkennung. Auch politische Gegner:innen beschreiben Heer in ihren Abschiedsworten als feinen Menschen mit Schalk und grossem Geist. Politisch ein Haudegen, blieb Heer stets dem Konsens und der Menschlichkeit verpflichtet.
Am Montag nach Heers Tod tragen die meisten Parlamentsmitglieder schwarz. Der Nachruf von Nationalratspräsidentin Maja Riniker, gefolgt von einer Schweigeminute ergreift den Rat – und aller Streit scheint plötzlich klein. Was kaum jemand weiss: Die SVP hat auch eine geplante Inszenierung ihrer Fraktionsmitglieder zur «10-Millionen-Schweiz» in letzter Minute abgeblasen.
Gefechte am Röstigraben
Szenenwechsel: Emmanuel Amoos ist SP-Nationalrat aus dem Wallis. Einige Tage nach dem Vorfall im Nationalratssaal sagt er in der Wandelhalle zu Swissinfo: «Man kann als Redner im Ratssaal eine Frage abklemmen, kein Problem.» Aber normalerweise geschehe das aus inhaltlichen Gründen. «Nicht wegen der Sprache.»
Der Vorfall war: Amoos will eine Frage an SVP-Nationalrat Thomas Matter stellen, der am Rednerpult gerade die Bankenwelt vertritt. Die Debatte dreht sich um Bankenregulierungen. In diesem Dossier herrscht Nervosität, denn immer unverhohlener sondert die letzte Schweizer Grossbank UBS Signale ab, sie könnte die Schweiz verlassen, wenn die Politik zu sehr reguliere.
Die Nationalratspräsidentin: Herr Matter, es gibt eine Zwischenfrage von Herrn Amoos. Nehmen Sie sie an?
Nationalrat Matter: Wird die Frage auf Deutsch gestellt?
Nationalrat Amoos: Ich stelle die Frage auf Französisch, spreche aber langsam.
Nationalrat Matter: Dann nehme ich die Frage nicht an, mein Französisch ist heute nicht so gut.
(Heiterkeit) – steht im Ratsprotokoll dazu vermerkt.
Ein Gewählter steckt so etwas weg, es gibt Wichtigeres. Zeitgleich aber wogt durch die Schweiz eine Debatte um die Bedeutung der Sprachen für den nationalen Zusammenhalt. Der Kanton Zürich will – wie andere auch – den Französischunterricht in der Primarschule streichen. Der Bundesrat reagiert besorgt und will die Kantone per Gesetz dazu verpflichten.
Der Krieg in Gaza beschäftigt
Zur Aussenpolitik: Der Ständerat will keine Anerkennung des Staats Palästina durch die Schweiz. Auch ein Ende der militärischen Zusammenarbeit mit Israel wurde verworfen – in einer Sondersession zu Gaza, die im Nationalrat einberufen wurde.
Doch das Thema bleibt im Vordergrund. Mehrere Parlamentarier:innen quer durch alle Parteien haben in der letzten Sessionswoche je eine gleichlautende Motion deponiert. Sie fordert, dass der Bundesrat bei der Uno eine dringende Resolution einreicht, die humanitären Zugang zum Gazastreifen und zu allen Geiseln verlangt.
Ausserdem will das Parlament ausländische Gemeinschaften in der Schweiz besser vor Repressionen durch ihre Herkunftsstaaten schützen. Namentlich erwähnt wurden China, Russland und Eritrea.
Und die geplanten Bundesbeiträge von 269 Milliionen Franken ans internationale Genf werden nicht gekürzt. Das Geld soll Genf als Zentrum des Mulitlateralismus stärken und verhindern, dass andere Länder den Reformprozess dazu benutzen, um auf Kosten von Genf eigene Standorte auszubauen.
Sorge um die Verteidigung
Eine grosse Herausforderung bleibt die Verteidung: Die eidgenössischen Räte haben 1,7 Milliarden Franken für die Armee bewilligt. Eine zusätzliche Milliarde für Munition kam mit Blick auf die Schuldenbremse nicht in Frage.

Aufgestaut bleibt derweil der Ärger um Mehrkosten für den neuen US-Kampfjet F-35. Die Frage, ob ein allfälliger Zusatzkredit für die Jets vors Volk kommen soll, ist auf die Wintersession vertagt.
Martin Pfister, der neue Bundesrat aus der Zuger Kantonsregierung, ist mit dieser Session endgültig in seinem neuen Amt angekommen. Das Rüstungsprogramm 2025 ist unter Dach. Alle Fragen sind souverän beantwortet. Auch Medien geben ihm gute Noten.
Doch Sorgen bleiben. Die Nato wird in Polen, Estland und Dänemark mit hybriden Angriffen getestet. Verteidigungsminister Martin Pfister spricht gegenüber SRF von hybrider Kriegsführung und sagt: «Das muss uns beunruhigen.» Auch Nationalratspräsidentin Maja Riniker sagt beim Besuch einer polnischen Parlamentsdelegation: «Die klaren Verletzung der territorialen Integrität zeigen uns, wie fragil die Sicherheitslage auf unserem Kontinent ist».
Editiert von Samuel Jaberg

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