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Schweizer Aussenpolitik erhielt ein Gesicht

Calmy-Rey am Mittwoch vor der Presse, während sie ihren Rücktritt bekannt gab. Keystone

"Eigensinnige Patriotin", "geniale Politikvermarkterin", "störrisch und rechthaberisch", "die Unkaputtbare", "undiplomatische Botschafterin", etc.: Die Schweizer Presse ist bei der Würdigung der abtretenden Aussenministerin Micheline Calmy-Rey um Umschreibungen nicht verlegen.

“Sie hat ins breite Bewusstsein geholt, was vorher nicht für alle sichtbar war”, schreibt der Tages-Anzeiger, nämlich “dass die Schweiz eine Aussenpolitik hat”. Immerhin existiere die Schweiz jetzt auf der internationalen Szene, fügt die Westschweizer Le Temps bei.

Das sei das Resultat ihrer “Diplomatie publique”, die Micheline Calmy-Rey zu Beginn ihres Magistrats angekündigt hatte, mit dem Ziel eines Konsens in Sachen Aussenpolitik. Doch dieser, so Le Temps, sei nicht erreicht worden.

“Monsieur Cotti? Wer ist Monsieur Cotti?” soll der ehemalige französische Präsident Jacques Chirac einmal in Genf gefragt haben, als Flavio Cotti gerade neben ihm sass. “Das konnte Micheline Calmy-Rey nicht passieren”, schätzt Le Temps, die Hillary Clinton mit einem Küsschen auf die Backe willkommen geheissen habe, Medwedew drei Mal empfing und während der Libyen-Konferenz in Paris neben Sarkozy sass.

Ihre Gegner in der Schweiz würden das auf ihr “überentwickeltes Ego” zurückführen, zitiert Le Temps Calmy-Reys Gegner von rechts, die ihr oft Arroganz vorgeworfen hätten. Dabei habe die linke Patriotin die “eigenwillige Schweizer Europapolitik” (Tagi) hartnäckig gegenüber Brüssel verteidigt und die Tradition der Guten Dienste wiederbelebt.

Doch auch das kam nicht überall an. Die Basler Zeitung (BaZ) kritisiert, dass diese Politik darauf hinaus lief, “sich für fast jeden Konflikt dieser Welt zuständig zu erklären: Imperiale Überschätzung eines Kleinstaates.”

“Zustand permanenten Schreckens”

Wenig Komplimente von rechts erhält die Aussenministerin auch für die Führung ihres Departements. Die BaZ, besonders bissig, attestiert ihr einen “erratischen und unberechenbaren Führungsstil”, der die Mitarbeiter des Aussenministeriums “in einen Zustand des permanenten Schreckens versetzt. Wer konnte, flüchtete auf Aussenstationen”.

Und so fasst das Boulevardblatt Blick zusammen: “Keine andere Politikerin war in den letzten Jahren so angefeindet worden wie die im Volk beliebte Aussenministerin. Ihre offensive, selbstbewusste Diplomatie passte vielen nicht ins Konzept.”

Doch, so schreibt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), habe sich die Magistratin gegen die immer wieder aufflammende Kritik “weitgehend immun” gezeigt. Ihr aussenpolitisch aktives Handeln, ihre plakativen Aktionen und kreativen Ideen hätten sowohl die departementale Belegschaft als auch das Gros der Classe politique irritiert.

Trotz allem populär

Und die NZZ konstatiert: “Diese zuweilen starrköpfige Eigenwilligkeit war ihrem Image nicht abträglich. Dass sie gegen den Strom schwamm, machte sie populär.”

Neben den eher negativ einzustufenden “Husarenritten” bei der Anerkennung Kosovos, beim Besuch in Iran oder der leidigen Libyen-Affäre habe Calmy-Rey aber die Schweiz “mindestens so sehr profiliert wie ihr Vorgänger Joseph Deiss”.

“Egal, was man von der öffentlichen Diplomatie hält, welche die anfangs wenig diplomatische Magistratin eingeführt hat”, schreibt die Neue Luzerner Zeitung, “egal, obs ihr um die Sache oder um ihre eigene Person gegangen ist. Calmy-Rey hat es geschafft, die Aussenpolitik im Volk populär zu machen, indem sie ihr ein Gesicht gegeben hat.” Dies sei “das grosse Verdienst der Frau an der Spitze des EDA”, welche von allem Anfang an weit über das übliche Mass polarisiert habe.

Von “Cruella” bis “Calamity Rey”

Die Würdigung der Genferin Calmy-Rey fällt auch in der Westschweizer Presse zweischneidig aus: Gewürdigt werden durchwegs die Verdienste, die Schweiz im Ausland sichtbarer zu machen. Doch der Lausanner Le Matin zählt auch einige der Übernamen auf, die sie charakterisieren: Von “Cruella” bis “Calamity Rey”, manchmal auch “Eiserne Lady”, dann wieder – für Näherstehende – mit leichtem Unterton “Mimi”….nur wenige Bundesräte hätten es auf so viele Zweit-Bezeichnungen geschafft.

Bis zum Exzess habe sie alles sehen, kontrollieren und entscheiden wollen, so Le Matin. Als Solistin in der für sie reservierten Domäne bezeichnet sie die Freiburger La Liberté. “Im Schlechten und im Guten haben Calmy-Reys Ego und Sololäufe die neun Jahre Aussenpolitik der Schweiz geprägt.”

Mit einer “unglaublichen Kapazität zur Resistenz…auch gegenüber guten Ratschlägen”, zitiert La Liberté einen ehemaligen Botschafter.

Ausland sieht das anders

Einen weiteren Aspekt der Politik Calmy-Reys kommentiert die Südschweizer La Regione: Die Aussenministerin habe dem Inland vorgeführt, dass Verhaltensweisen, die in der Schweiz Kritik nach sich zögen, im Ausland, in der internationalen Diplomatie oder vor den Medien durchaus angebracht sein können. Paradebeispiel: Ihr Überqueren der Waffenstillstandslinie zwischen Süd- und Nordkorea.

La Regione konzediert Calmy-Rey eine “klare und sichere Linie, die sie kohärent vertreten hat”. Auch bei den Bilateralen habe sie sich immer an die Vorgaben behalten. Sie habe versucht, die Schweiz aus dem “Sonderfall” zu führen und dem Land dank “aktiver Neutralität” eine neue Rolle zu geben.

Der Corriere del Ticino nennt das Paradox, dass Calmy-Rey eher bei den traditionellen “Guten Diensten” als bei ihrer “öffentlichen Diplomatie” Erfolge habe buchen können. Zu den wenig erfolgreichen Aktivitäten zählt der Corriere den “UNO-Menschenrechtsrat, der durch die Präsenz von vielen Ländern, welche die Menschenrechte alles andere als würdigen, paralysiert worden ist”, oder das “zu offen gezeigte antiisraelische Auftreten” im Nahen Osten.

Als Erfolge verbucht der Corriere die Guten Dienste am Kaspischen Meer, die Bilateralen II und auch die jüngsten Doppelbesteuerungsabkommen mit Deutschland und England.

1945: Micheline Calmy-Rey wird am 8. Juli in Sitten (VS) geboren. Sie lebt bis zu ihrem 19. Lebensjahr im Wallis.

1968: Diplom in Politikwissenschaften an der Universität Genf.

1974: Eintritt in die Genfer Sozialdemokratische Partei (SP). Verheiratet, Mutter von zwei Kindern und während 20 Jahren Leiterin einer KMU im Buchvertrieb.

1981-1997: Mitglied im Genfer Grossen Rat.

1986-90;1993-97: Präsidentin der SP Genf.

1997-2002: Mitglied der Genfer Kantonsregierung.

2003-2011: Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).

2007 und 2011: Bundespräsidentin.

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