The Swiss voice in the world since 1935
Top Stories
Schweizer Demokratie
Newsletter

Wie indonesische Inselbewohnende den Schweizer Zement-Multi Holcim herausfordern

Eine Frau mit Kopftuch
Ibu Asmania ist eine von vier Klägerinnen und Klägern, welche die erste Klimaklage in der Schweiz gegen den Zementhersteller Holcim eingereicht haben. SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Ihr Kampf sorgt weltweit für Aufsehen: Vier Bewohner:innen der kleinen Insel Pulau Pari in Indonesien haben sich entschlossen, gerichtlich gegen eine der klimaschädlichsten Industrien vorzugehen – die Zementindustrie und den Schweizer Hersteller Holcim. Swissinfo hat die Personen an ihrem vom Klimawandel bedrohten Wohnort in Indonesien getroffen.

Von der indonesischen Hauptstadt Jakarta ist eine Schifffahrt von einer Stunde sowie ein Spaziergang von fünf Minuten nötig, um das bescheidene Gästehaus im Zentrum von Pulau Pari zu erreichen. Der Name der winzigen indonesischen Insel ist kürzlich um die Welt gegangen.

Vor Ort fallen bei der Ankunft sofort die vielen Plakate auf: «Rettet die Insel!» Die Gerantin des Gästehauses, Ibu Asmania, steht vor dem Herd, auf dem sie einige Bananen brät. Sie ist die Initiatorin der ersten Klimaklage, die in der Schweiz gegen den Zementhersteller Holcim eingereicht wurde.

An diesem Mittwochmorgen im Oktober ist die Terrasse des Lokals gut besucht. Eine Journalistin und ein Kameramann eines indonesischen Fernsehsenders sowie zwei Vertreterinnen einer lokalen NGO sind ebenfalls angereist. «Wir sind gekommen, um die Geschichte der Klimaklage zu erzählen», sagt die junge Journalistin.

Mejrere Menschen sitzen auf der Terrasse eines Gästehauses an einem Tisch
Die Terrasse von Ibu Asmanias «Homestay» ist stets gut besucht und dient als Treffpunkt für die Bewohnerinnen und Bewohner der Insel, die sich für Klimagerechtigkeit engagieren. SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Die Anwesenheit der Medien – aus dem In- und Ausland – überrascht auf dieser paradiesischen Insel mit 1500 Einwohner:innen niemanden mehr.

Denn die Zivilklage von vier Inselbewohnern gegen den Zementriesen aus Zug lässt sich durchaus als «historisch» bezeichnen. Diese Klage könnte vor allem den Weg für ähnliche Verfahren in der Schweiz und an anderen Orten ebnen.

Pulau Pari liegt etwa vierzig Kilometer nordwestlich von Jakarta und ist – wie viele kleine Inseln auf der ganzen Welt – von der globalen Erderwärmung besonders betroffen.

Die Bevölkerung leidet täglich unter den negativen Auswirkungen des steigenden Meeresspiegels, der Zerstörung des marinen Ökosystems und des unvorhersehbaren Wetters.

Die Bewohner:innen dieser Insel leben hauptsächlich vom Fischfang und vom Tourismus. Selbst haben sie einen sehr kleinen Beitrag zu den Treibhausgasemissionen beigetragen, doch die Auswirkungen des Klimawandels spüren sie besonders stark.

Externer Inhalt

«Der Klimawandel trifft uns sehr hart», sagt Ibu Asmania. «Aber wir haben uns immer um unsere Insel gekümmert. Heute leiden wir unter den Folgen der Treibhausgasemissionen, die zu einem guten Teil von multinationalen Unternehmen wie Holcim erzeugt werden. Das ist ungerecht.»

Deshalb haben Ibu Asmania und drei weitere Inselbewohner beschlossen, in die Schweiz zu reisen, um dort eine Zivilklage gegen Holcim einzureichen.

Sie machen das Unternehmen mitverantwortlich für die globale Klimakrise, unter der sie leiden. Die Zementproduktion ist für rund acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich.

Die Forderungen der Kläger:innen: Der Zementhersteller soll die entstandenen Schäden kompensieren und sich mit insgesamt 14’700 Franken an den Schutzmassnahmen beteiligen. Ausserdem verlangen sie, dass Holcim seine Kohlendioxidemissionen reduziert.

Ibu Asmania, Mustaghfirin, Arif Pujianto und Edi Mulyono reichten 2023 beim Kantonsgericht in Zug eine Zivilklage gegen Holcim wegen «Persönlichkeitsverletzung» aufgrund der Beteiligung des Unternehmens am Klimawandel ein.

Sie fordern vom Zuger Zementhersteller eine Entschädigung für die durch die globale Erwärmung verursachten Schäden, eine Beteiligung an Hochwasserschutzmassnahmen und eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Das entspricht einem Betrag von 3600 Franken pro Person, insgesamt also 14’700 Franken.

Es steht viel auf dem Spiel. Es ist das erste Mal, dass Ausländer:inen ein Zivilverfahren gegen ein Schweizer Unternehmen wegen dessen Rolle beim Klimawandel einleiten.

Der Fall könnte einen Präzedenzfall für ähnliche Rechtsstreitigkeiten in der Schweiz und weltweit schaffen. Holcim wird vorgeworfen, für besonders viele klimaschädliche CO2-Emissionen verantwortlich zu sein.

Ein Schlichtungsverfahren vor einem Friedensrichter scheiterte. Im September nahmen zwei der Klagenden an einer Vorverhandlung vor dem Zuger Kantonsgericht teil, das über die Zulässigkeit der Klage entscheiden muss. Die Entscheidung der drei Richter, die sich nicht auf den Streitgegenstand beziehen wird, soll in Kürze fallen.

Holcim äussert sich nicht direkt zu dem laufenden Verfahren, erklärt jedoch, dass die Frage, wer wie viel CO2 ausstossen darf, «in die Zuständigkeit des Gesetzgebers und nicht eines Zivilgerichts fällt».

Das Unternehmen ist der Ansicht, dass Klagen gegen einzelne Unternehmen kein wirksames Mittel sind, um die komplexen Zusammenhänge des Klimaschutzes zu bewältigen.

Algenzucht verunmöglicht

Nachdem das Frühstück abgeräumt ist, führt uns die 42-Jährige in ihr Wohnzimmer, wo nur das Summen einer Klimaanlage die Stille stört.

Auf dem Bücherregal stehen gerahmte Fotos von ihrem letzten Aufenthalt in der Schweiz, die sie vor dem Bundeshaus in Bern zeigen, umgeben von mehreren Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die sich für ihren Kampf einsetzen.

Einen Monat nach ihrer Rückkehr macht die Mutter von drei Kindern kein Hehl aus ihren Sorgen, während sie «ungeduldig» auf Neuigkeiten vom Kantonsgericht in Zug wartet.

Im Gegensatz zu den anderen Klägern ist Ibu Asmania nicht in Pulau Pari aufgewachsen, sondern in der Stadt Bekasi östlich von Jakarta. Das hindert sie jedoch nicht daran, mit grossem Bedauern festzustellen, wie sehr sich der Ort in den letzten Jahren verändert hat.

«Als ich hierherkam, war es eine Fischerinsel», erinnert sich die Frau, die einst mit ihrem Ehemann Tono, den sie 2005 geheiratet hatte, auf die Insel gezogen war. Damals war Pulau Pari bekannt für seinen Anbau von Algen, die weltweit exportiert wurden und eine wichtige Einnahmequelle für die Bevölkerung darstellten.

Nach der Verarbeitung wurden die Algen in der Lebensmittel- und Pharmaindustrie verwendet. Aber deren Produktion ist auf der Insel nun nicht mehr möglich. «Früher waren die Algen wirklich von guter Qualität», erinnert sie sich. «Heute werden sie aufgrund der hohen Meerestemperatur ganz weiss und sterben nach einer Woche ab.»

Da diese wirtschaftliche Tätigkeit zusammenbrach, sah sich Ibu Asmania wie andere Landsleute vor zehn Jahren gezwungen, sich dem Tourismus zuzuwenden.

Holcim war lange Zeit der weltweit grösste Zementhersteller. Die Zementindustrie gilt als Industriezweig, der nach der Industrie der fossilen Brennstoffe den zweitgrössten CO2-Ausstoss verursacht.

Da mehrere im Bereich Kohlenwasserstoffe tätige Unternehmen bereits Gegenstand von Klagen oder Klimaschutzmassnahmen sind, haben die Einwohner:innen von Pulau Pari beschlossen, gegen Holcim vorzugehen. Das Unternehmen war bis 2019 in Indonesien präsent.

Schwierige Bedingungen für Fischerei

Am Abend treffen wir Mustaghfirin auf der Terrasse des Gästehauses, wo sich täglich mehrere Kläger und ihre Angehörigen treffen.

Der Fischer und religiöse Führer, dessen langes graues Haar sein Gesicht umrahmt, hat einen strengen Tag hinter sich, der von Gebeten und Ausfahrten auf das Meer geprägt war.

Ein Mann, der auf einer Terrasse sitzt
«Bobby» auf der Terrasse von Ibu Asmania. Hinter ihm eine Piratenflagge «Jolly Roger» aus dem japanischen Manga «One Piece», die zu einem Symbol der Protestbewegungen in Indonesien geworden ist. SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Der 53-Jährige, den hier alle «Bobby» nennen, erinnert sich an bessere Zeiten. «Mit dem Klimawandel hat sich unser Alltag als Fischer völlig verändert.» Die Fangmengen seien zurückgegangen, sagt er, besonders in flachen Gewässern.

Um die gleichen Mengen wie vor 20 Jahren zu erzielen, müssen die Fischer weit hinausfahren – manchmal Dutzende von Kilometern –, was ihren Beruf gefährlicher macht.

«Wir werden oft vom schlechten Wetter überrascht», sagt «Bobby», der schon auf der Insel geboren wurde. Vor vier Jahren hätte ihn das fast das Leben gekostet.

In Folge einer grossen Welle zerbrach sein Boot in zwei Teile und schleuderte ihn ins Meer. Glücklicherweise rettete ihn ein Kollege, der sich in der Nähe befand.

«Bobby» sitzt im Schneidersitz auf der Bank und erzählt diese Geschichte, wobei er mit grossen Gesten sein verzweifeltes Schwimmen inmitten des Sturms nachahmt. Heute lachen er und seine Angehörigen darüber, aber der Unfall hätte tragisch enden können.

«Seitdem wäre ich noch zwei weitere Mal fast ertrunken. Und die anderen auch», fügt er hinzu. «Unser Instinkt reicht nicht mehr aus, weil sich die Winde so schnell ändern.»

Trotz der gewaltigen Herausforderungen und der Sorgen seiner Angehörigen kann sich der Fischer nicht vorstellen, seinen Beruf zu wechseln und eine andere Tätigkeit auszuüben.

«Wir geniessen völlige Freiheit. Wenn man das einmal erlebt hat, kann man nichts anderes mehr machen. Und wer bringt den Fisch auf den Tisch, wenn alle im Büro oder auf der Baustelle arbeiten?»

Eine Katze betrachtet tote Fische, die am Boden liegen
Weniger Fischfang für mehr Sicherheit auf dem Meer – diesen Entscheid treffen einige Fischer, darunter auch «Bobby». SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Tourismus als Alternative

Viele Einheimische haben sich aber von der Fischerei abgewandt und widmen sich nun dem Tourismus, so wie Ibu Asmania mit ihrem Gästehaus.

Seit 2010 ist die Insel für Tourist:innen zugänglich. Aber auch die Zukunft dieser Aktivität ist bedroht. Grund dafür ist die Erosion der Strände, die durch stärkere Gezeiten als früher verursacht wird.

Arif Pujianto steht am Rand des Meeres und lässt seinen lebhaften Blick über «seinen Strand» schweifen, einen idyllischen weissen Sandstreifen am westlichen Ende der Insel, um den er sich neben seinem Beruf als Mechaniker kümmert.

«Das Meer hat in fünf Jahren neun Meter Land eingenommen», sagt er verbittert. Die Insel Pulau Pari hat etwa zehn Prozent ihrer Fläche verloren und könnte laut NGOs bis 2050 weitgehend unter Wasser stehen und somit verschwinden.

«Manchmal denke ich daran zurück, wie dieser Ort früher einmal war, an seine frühere Schönheit… Zum Glück verlieren die Besucher:innen nicht die Lust, hierher zu kommen, auch wenn der Strand Schaden genommen hat.»

An den Wochenenden empfängt die kleine Insel etwa 2000 Gäste, hauptsächlich Indonesierinnen und Indonesier aus Jakarta, die dem Grossstadtdschungel entfliehen wollen. An wichtigen Feiertagen kann ihre Zahl laut Schätzungen des Strandbademeisters innerhalb einer Woche auf 10’000 ansteigen.

Seit einigen Jahren bedroht die Flut des Meeres auch die Wohnhäuser, darunter auch das Haus von Arif Pujianto, das etwa 30 Meter vom Ufer entfernt liegt.

Letztes Jahr drang dort Meerwasser ein und verursachte erhebliche Schäden an Möbeln, Wänden und den Fundamenten des Hauses.

Um der Küstenerosion und den Überschwemmungen entgegenzuwirken, haben die Inselbewohner:innen kleine Deiche gebaut und begonnen, Mangroven zu pflanzen, namentlich dank der finanziellen Unterstützung von Touristinnen und Touristen.

Es sind jedoch weitere Anstrengungen zum Schutz der Insel erforderlich. Die Klägerin und die drei weiteren Kläger fordern, dass Holcim einen Beitrag zu diesen Massnahmen leistet.

Was bringt die Zukunft?

Die vier Klagenden können auf die Unterstützung eines Grossteils der Einheimischen zählen, wie die zahlreichen Flaggen mit der Aufschrift «Klimagerechtigkeit» beweisen, die überall auf der Insel auf den Dächern der Häuser wehen.

Auf Pulau Pari glauben alle daran, dass die Schweizer Justiz ihnen Recht geben wird. Und alle sind sich bewusst, dass dieser Fall als Beispiel für die Bewohner:innen anderer kleiner Inseln dienen könnte, deren Existenz vom Klimawandel bedroht ist.

Laut Weltbank könnten bis 2050 etwa 48 Millionen Menschen in Ostasien und im Pazifikraum, einer Region, zu der auch Indonesien gehört, aufgrund von Klimakatastrophen ihre Heimat verlassen müssen.

Ein Mann mit einenm T-Shirt, das die Aufschrift "#SavePariIsland" trägt
Edi Mulyono, ein 40-jähriger Fischer aus Pulau Pari, hat eine traumhafte Kindheit erlebt. Er hofft, dass auch seine beiden Töchter und sein Sohn eine starke Bindung zu ihrer Insel entwickeln können. SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Der vierte Kläger, Edi Mulyono, sitzt auf einer Bank am Rand des Fischereihafens und sagt uns nachdenklich: «Was mich am meisten beunruhigt, ist die Zukunft meiner Kinder.»

Mit einer Zigarette zwischen den Lippen blickt er zu seinem fünfjährigen Sohn, der auf dem kleinen Deich spielt, der die umliegenden Häuser schützen soll, darunter auch das seiner Familie.

«Wenn wir unseren Kampf verlieren, können meine Kinder und Enkelkinder nicht mehr auf der Insel Pulau Pari leben.»

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Französischen mithilfe von Deepl: Gerhard Lob/raf

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft