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Schweizer Filmschaffende entführen ihr Publikum mit Virtual Reality in andere Welten

Stark verpixelte Menschen
Szene aus «Rave», Patrick Muronis VR-Film. ©Patrick Muroni

In zwei neuen Virtual-Reality-Filmen der Schweizer Regisseure Domenico Singha Pedroli und Patrick Muroni erleben die Zuschauer:innen eine nächtliche Rave-Party oder lassen sich mit einer Asylbewerberin durch Paris treiben. Die Filmemacher spielen mit der Frage, wohin das Medium Film sich entwickelt, wenn das Publikum nicht mehr nur zuschaut, sondern selbst Teil der Geschichte wird.

Virtuelle Realität ist weit mehr als eine neue Technologie, mir ihr lässt sich Kino neu erleben. Auf Filmfestivals und in Kunsträumen erschaffen Regisseur:innen, die einst Bilder für zweidimensionale Bildschirme komponierten, nun ganze Welten.

In diesem neuen Terrain fällt die traditionelle Distanz zwischen Zuschauer:innen und Sujet in sich zusammen: Das Publikum taucht in die Erzählung ein, anstatt sie zu beobachten.

Dieser Transformation widmet sich «Art*VR». Das jährliche Festival für immersives Storytelling feiert in diesem Herbst seine dritte Ausgabe im DOX Zentrum für zeitgenössische Kunst in Prag.

Die Veranstaltung bietet auf mehreren Etagen in thematischen Schwerpunkten wie «More-than-Human Perspectives» (welche die die Blickwinkel von Natur und KI erkunden) und «AsteRisk*» (mit dem Fokus auf Menschenrechten) einen umfassenden Einblick, wie Künstler:innen das bewegte Bild für das Zeitalter der Headsets neuartig definieren. Es wird von einem internationalen Wettbewerb begleitet.

Die weissen Flächen des Museums, normalerweise mit Kunstwerken bestückt, sind nun leer. Vereinzelt sitzen oder liegen Besucher:innen mit Headsets in kleinen, markierten Bereichen: auf einem Stuhl, einem Teppich oder in einem Plexiglaskubus.

Die Galerie, einst für den kollektiven Kunstgenuss konzipiert, ist zu einem Ort für ein privates Erlebnis geworden, in dem die Besucher:innen von ihrer jeweils eigenen unsichtbaren Welt umhüllt sind.

Eine Person mit einer VR-Brille
Das Museum als Ort eines privaten Erlebnisses: Eintauchen auf dem Art*VR Festival in Prag. Tomas Cindr

Inmitten von Besucher:innen, die in eine jeweils eigenen Welt eintauchen, erwachen die Werke des schweizerisch-thailändischen Regisseurs Domenico Singha Pedroli und des schweizerisch-französischen Regisseurs Patrick Muroni zum Leben.

Beide sind für ihr poetisches, introspektives Kino bekannt und erweitern mit ihren ersten VR-Ausflügen «Another Place» und «Rave»ihren künstlerischen Ansatz auf immersive Formen.

Sie nutzen VR – anstatt sie als Novum zu betrachten – zur Fortsetzung ihrer zentralen Frage: Wie kann Film uns Nähe spüren lassen – nicht nur durch das Auge, sondern auch durch den Körper?

Architektur und Kolonialkarten

Für Pedroli, der ursprünglich Architektur studiert hat, kreisen diese Fragen um Exil, koloniale Spuren und Erinnerung. Sein früherer Dokumentarfilm «Au Revoir Siam», der 2024 auf dem Filmfestival Visions du Réel in der Schweizer Stadt Nyon Premiere feierte, schilderte die Erfahrungen thailändischer politischer Flüchtlinge in Frankreich und verknüpfte Archivkarten und Fotografien der Bibliothèque nationale de France mit zeitgenössischen Bildern aus dem Flüchtlingsalltag.

Kolonialherren in Tropenhelmen
Szene aus «Au Revoir Siam»: Der VR-Film lädt die Zuschauer:innen auf eine Reise durch Zeit… ©Domenico Singha Pedroli
Blick von einem überdachten Boot auf einen See
… und Raum nach Thailand ein, das bis 1939 als Siam bekannt war. ©Domenico-Singha-Pedroli

«Architektur hat mich gelehrt, die Erfahrung von Zeit und Raum in einem bestimmten kulturellen Kontext zu gestalten und umzuwandeln», sagt er.

«Als ich mit Filmen zu arbeiten begann, nahm ich diese Einsichten mit, jedoch mit einem viel tieferen Bewusstsein für die Menschen, mit denen ich mich auseinandersetzte.»

In «Au Revoir Siam» nutzte er ein Split-Screen-Format. Er stellte zwei Bilder nebeneinander, um die Koexistenz sich überschneidender Zeitebenen zu veranschaulichen: die koloniale Vergangenheit und die Gegenwart, das Leben thailändischer politischer Flüchtlinge in Paris und das fortwährende Leben in Bangkok.

Diese visuelle Struktur ist mit experimentelleren Bildern verwoben, wie beispielsweise Aufnahmen von trübem Wasser.

«Die Kamera in den Fluss zu werfen, war eine künstlerische Geste – um auszudrücken, dass die gezogenen Kolonialgrenzen dort nicht wirklich existieren», sagt er. «Im Wasser gibt es keine Trennung, keine Grenze, kein Land. Nur Kontinuität.»

Zwischen den Welten schwebend

Während «Au Revoir Siam»die Betrachtenden zu Zeug:innen machte, werden sie in Pedrolis neuem VR-Werk «Another Place» zu Protagonist:innen.

Hier lösen sich Grenzen buchstäblich auf. Die Zuschauer:innen schweben durch Paris und Bangkok. Sie schlüpfen in die Rolle von Renée, einer jungen thailändischen Transfrau, die nach einem verhängnisvollen Facebook-Post ins Exil fliehen musste und nun in Frankreich auf den Ausgang ihres Asylverfahrens wartet.

Ein in Rot getauchtes Zimmer
Renées Zimmer in Pedrolis «Another Place». ©Domenico Singha Pedroli

«Für mich ging es nicht darum, ihre Erfahrungen zu analysieren, sondern einen Raum zu schaffen, in dem das Publikum Renées Perspektive einnehmen und ihre Entfremdung von der Welt spüren kann», sagt Pedroli.

Renée irrt durch ein ihr fremdes Paris, eine Stadt, in der Spuren von Bangkok sie verfolgen und in der zwei Zeitebenen aufeinanderprallen. Plastikhocker, Strassenstühle und Haufen von Bauschutt sind auf den Trottoirs verstreut und zerstören jegliches räumliches Orientierungsgefühl.

Die Architektur spiegelt diese Entfremdung wider: Eine einzelne Pariser Fassade wiederholt sich endlos und erzeugt so das Gefühl einer um sich kreisenden, desorientierenden Umgebung.

Ein junger Mann
Der Filmemacher Domenico Singha Pedroli wuchs im Tessin, dem italienischen Teil der Schweiz, auf. Luca Piccoli

«Die Wiederholung des Gebäudes war zunächst eine formale Entscheidung, dann wurde sie zu einer ästhetischen Aussage», sagt Pedroli. «Die Uniformität wirkt erdrückend, fast absurd. Sie spiegelt Haussmanns Ideal der städtebaulichen Einheit wider, aber hier schlägt sie ins Entfremdende um.»

Die Szenerie in «Another Place» wurde vollständig in 3D innerhalb einer VR-Umgebung kreiert und basiert auf Renées Erzählungen und Fotografien.

Innerhalb des Werks ist der Ton das einzig «reale» Element. Renées Stimme führt durch die ineinander übergehenden Räume, sie lässt das Publikum an ihren Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen teilhaben, schwebend und von ihrer Umgebung losgelöst.

Die Erzählung mäandert, wie Renée selbst, ist interpretationsbedürftig und entwickelt sich im Kontext der persönlichen Betrachtung durch das Publikum. Unterbrochen wird sie von wiederkehrenden Anrufen bei Ofpra, der französischen Asylbehörde. Dort erreicht sie nur einen Anrufbeantworter.

Im Schutz der Dunkelheit

Pixel eines VR-Bilds
Das Eintauchen in «Rave» ähnelt einem Drogenrausch. ©Patrick Muroni

Während «Another Place»das Thema Exil durch räumliche Metaphern und Erfahrungen vermittelt, spiegelt Muronios «Rave» seine Faszination für die Magie der Nacht und die Freiheiten, die sie jungen Menschen eröffnet. Es ist ein zeitloser Raum, befreit von den Zwängen der Produktivität.

«Für mich ist die Nacht ein Raum der Freiheit, fernab der Verpflichtungen des Tages», sagt er. «Als ich Teenager war, symbolisierten die Nächte, dass alles möglich ist.»

In seinen früheren Filmen «Un matin d’été» und «Les Sentinelles» fing Muroni die flüchtigen Momente der Morgendämmerung nach einer Party und von ungezwungenen Treffen ein: Freunde treiben durch die Strassen und wandern in Wäldern umher, schwebend zwischen Erschöpfung und Erkenntnis.

Szene aus Patrick Muronis Kurzfilm "Les Sentinelles" (Die Wächter, 2021).
Szene aus Patrick Muronis Kurzfilm «Les Sentinelles» (Die Wächter, 2021). ©Patrick Muroni

In «Rave» beginnt die Geschichte mit der Vorfreude auf das Ereignis, mit einem Treffen, auf dem auch Drogen konsumiert werden, dann führt der gemeinsame Gang durch einen Wald zu der eigentlichen Rave-Party.

Muroni wuchs in einem kleinen Dorf im französischen Departement Haute-Savoie auf. Sein Verständnis des Rave ist von seiner Kindheit dort geprägt: intime Zusammenkünfte im Wald, ganz anders als die Grossveranstaltungen im Stil des Burning Man, die häufig mit der Rave-Kultur assoziiert werden.

Sein Filmprojekt entstand aus dem Wunsch, diese Erfahrungswelt für alle zugänglich und emotional verständlich zu machen.

Das Paradox, allein mit einem Kopfhörer und zugleich Teil eines kollektiven Erlebnisses zu sein, wurde zum konzeptuellen Kern von «Rave»: «Ich wollte, dass die Teilnehmenden nicht in Kontemplation verharren, sondern sich bewegen“, sagt Muroni. «Selbst allein, nur mit der Musik als Orientierung, beginnen sie zu tanzen.»

Ein junger Mann mit Baseball-Cap
Patrick Muroni. Christopher Small

Pedroli nutzt VR, um Distanz aufzulösen. Muroni simuliert mit ihrer Hilfe Nähe. Über die Intimität des Kopfhörer lässt sich die ekstatische kollektive Erfahrung des Rave vermitteln.

Seite an Seite zeigen «Another Place» und «Rave»eine neue Dimension des Kinos: die Möglichkeit, gelebte Erfahrung im dreidimensionalen Raum darzustellen. Der traditionelle Film ist eine feste Abfolge von Bildern, die alle gleich präsentiert bekommen und doch anders interpretieren.

Auch in VR entfaltet sich eine einzelne Geschichte, doch die Perspektiven sind innerhalb des 360°-Blickwinkels grenzenlos. Muronis und Pedrolis Arbeiten legen nahe, dass Kino nicht mit dem Headset endet, sondern mit ihm neu entdeckt werden kann – nicht als etwas, das wir konsumieren, sondern als ein Medium, in das wir eintauchen.

Editiert von Catherine Hickley/ts, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von KI-Tools: Petra Krimphove/raf

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