Chile öffnet ein Fenster Richtung Demokratie – und Richtung Schweiz
Chile will die noch von Diktator Augusto Pinochet verordnete Verfassung loswerden. Die Debatte über eine neue, demokratische Grundordnung weckt das Interesse an einem Land auf der anderen Seite der Welt – der Schweiz. Das ist auch das Verdienst von Nachkommen von Schweizer Auswanderern.
Ein anonymes Bürogebäude in der chilenischen Hauptstadt Santiago. Hier arbeitet Ricardo Santana. Der 32-Jährige ist Beamter in der Finanzabteilung des chilenischen Aussenministeriums. Hier betreut er die Aktivitäten des diplomatischen Dienstes, die im Kontakt mit der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaften APEC stehen
Aufgewachsen ist er in Patagonien, auch Feuerland genannt, also jenem schwach bewohnten Landstrich Chiles, der dem Südpol am nächsten ist. «Als ich geboren wurde, stand Pinochet schon in der Ausgangstüre», sagt Santana. Tatsächlich stimmten kurz nach seiner Geburt 56% der Chileninnen und Chilenen in der historischen Volksabstimmung vom 5. Oktober 1988 gegen eine Amtszeitverlängerung des Diktators.
Pinochet hatte die Macht im Land nach einem blutigen Militärputsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1973 übernommen. Damit zeichnete sich in Chile eine Entwicklung zur Demokratie ab, wie sie damals in vielen autoritär regierten Ländern stattfand.
Drei Jahrzehnte Stillstand
Doch im Unterschied zu vielen ex-kommunistischen Staaten Osteuropas oder früheren Militärdiktaturen wie Südkorea und Taiwan blieb in Chile auch nach dem durch das Volk erzwungenen Abtritt Pinochets und der Durchführung demokratischer Wahlen vieles beim Alten. «Die Pinochet-Verfassung von 1980 gilt bis heute», sagt Santana und fügt hinzu: «Aber hoffentlich nicht mehr lange».
Tatsächlich können am 25. Oktober fast 15 Millionen wahlberechtigte Chileninnen und Chilenen in einer verbindlichen Volksabstimmung darüber entscheiden, ob ihr vor-demokratisches Grundgesetz ersetzt werden soll. In einer zweiten Abstimmung entscheiden sie dann über die Frage, wer die neue Verfassung schreiben soll.
Hier gibt es zwei Möglichkeiten: erstens, dass dies durch einen gemischten Rat geschehen soll, der je zur Hälfte aus Parlamentariern und speziell für diese Rolle ausgewählte Bürgerinnen und Bürger besteht. Oder, zweitens, dass ein Verfassungsrat in Direktwahlen bestimmt werden soll, dem je 50% Frauen und Männern angehören. Letzteres wäre auch weltweit eine demokratiepolitische Premiere.
Gemäss offizieller Schweizer Statistik (2019) sind 46’418 Schweizer Bürgerinnen und Bürger in Südamerika registriert. 5490 leben in Chile. Dies ist nach Brasilien und Argentinien die drittgrösste Schweizer Community in der Region.
Junge Generation verlangt mehr Mitsprache
«Jetzt bekommen wir endlich eine echte Chance zur Veränderung», freut sich Ricardo Santana. Er gehört zu jener jungen Generation in Chile, der seit langem immer wieder grundlegende Reformen versprochen worden sind, etwa im stark privatisierten Bildungswesen – ohne dass sich wirklich etwas Grundlegendes verändert hätte. Auch deshalb ist es in den letzten zehn Jahren wiederholt zu schweren Jugendunruhen und Protesten gekommen.
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Augusto, der General, und seine Schweizer Amigos
Diese wurden jeweils brutal niedergeschlagen – von einer Polizei, die noch aus Pinochet-Zeiten hoch militarisiert ist. Auch jetzt, vor dem Verfassungsreferendum, protestieren wieder junge Menschen im ganzen Land und verlangen mehr Mitsprache.
Für die Doppelfrage einer neuen Verfassung und für die Wahl eines paritätischen Verfassungsrats, die auf den nächsten Frühjahr terminiert ist, wird allgemein ein doppeltes Ja erwartet.
Aber schon denken viele Menschen im Land einen Schritt weiter. So auch Ricardo Santana, dessen zweiter Familienname übrigens «Friedli» ist. «Die Eltern meiner Mutter sind aus Marbach im St. Galler Rheintal nach Patagonien ausgewandert», erzählt Santana. Als ausgewanderter «Schweizer» in vierter Generation hat er zwar kein Anrecht mehr auf die Schweizer Staatsbürgerschaft.
Trotzdem lässt er sich angesichts der laufenden Debatte über die künftige Ausgestaltung einer neuen chilenischen Verfassung von der fast 15’000 Kilometer entfernten Heimat seiner Vorfahren inspirieren. «Mich interessieren in erster Linie die direktdemokratischen Volksrechte», sagt der junge Beamte.
«Die Schweiz als Referenz und Inspiration»
Damit steht der 32-jährige Patagonier mit schweizerischen und kroatischen Wurzeln nicht alleine da: «Vinculante.cl»Externer Link heisst eine neue Plattform junger chilenischer IT-Spezialistinnen und -Experten. In der nun eröffneten zweijährigen Phase bis zur endgültigen Abstimmung über die neue Verfassung Chiles wollen sie Formen der partizipativen und direkten Demokratie in die öffentliche Debatte einbringen. Und so das Terrain ebnen, dass Instrumente und Mechanismen möglichst Eingang in die neue Verfassung finden werden.
«Der anstehende Prozess der Verfassungsgebung ist ein Fenster der Möglichkeiten», sagt Vinculante-Initiant Norbert Bilbeny und fügt hinzu: «Die Schweizer Erfahrungen mit den Volksrechten sind eine grosse Inspiration und Referenz für uns.»
Langjährige Beobachter der chilenischen Politik zeigen sich jedoch skeptisch. So etwa Eduardo Schindler. Der ehemalige Finanzfachmann aus der Hauptstadt Santiago lebt seit den frühen 80er-Jahren in der Schweiz. Hier hat er nach seiner Einbürgerung die direktdemokratischen Volksrechte zu schätzen und nutzen gelernt.
Schindler war davon so begeistert, dass er seither immer wieder versucht hat, seine alten Kollegen und Kontakte auf der anderen Seite der Erdkugel dafür zu erwärmen. «Aber in den letzten dreissig Jahren hat die politische Elite in Chile letztlich nichts zur Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger beigetragen», resümiert er. Schindler braucht für das chilenische Volk das Bild eines Erwachsenen, der von seiner Mutter immer noch in Kinderkleider gesteckt wird.
Enorme Wohlstandsunterschiede
Laut Eduardo Schindler, der heute in Kilchberg am Zürichsee lebt, ist sein Heimatland von grossen gesellschaftlichen Widersprüchen zerrissen. «Im lateinamerikanischen Vergleich verfügen wir zwar über eine hochentwickelte und sehr wettbewerbsfähige Wirtschaft. Aber unsere Demokratie steckt bis heute in den Kinderschuhen.»
Besonders stark zeigen sich die Gräben bei der sehr ungleichen Verteilung des Wohlstands im südamerikanischen Land: Mehr als die Hälfte der knapp 19 Millionen Chileninnen und Chilenen muss mit weniger als 500 Franken im Monat auskommen.
Es wird entscheidend sein, wie in den zwei Jahren bis zur abschliessenden Volksabstimmung über eine neue Verfassung, die Frage der Demokratie behandelt werden kann. Und das nicht nur formell, sondern auch informell. Denn, so betont Ricardo Santana, ein «demokratischeres Chile ist nur möglich, wenn wir als Gesellschaft auch gerechter und gleichberechtigter werden».
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