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Jugendparlamente – die Trainingslager des Milizsystems

Jugendparlamente sind mehr als wichtige Übungsfelder und Sprachrohre für politisch interessierte Junge. Diese Botschaft ist bei den meisten Gemeinden aber noch nicht angekommen. dsj.ch

Vorschläge machen, beraten, Projekte umsetzen, und Spass haben: In den 63 Jugendparlamenten der Schweiz sammeln rund 1500 politische Talente erste Erfahrungen. Die "Jupa" sind auch Nachwuchs-Schmieden des Schweizer Milizsystems, übernehmen doch ex-Mitglieder in ihrer Gemeinde eher politisch Verantwortung. Ein gutes Argument für den Dachverband der Schweizer Jugendparlamente (DSJ), der seinen 20. Geburtstag feiert.

Lisa Mazzone: Die 27-Jährige Grüne aus dem Kanton Genf ist bei den Schweizer Parlamentswahlen von Mitte Oktober als jüngstes Mitglied in den neuen Nationalrat gewählt worden.

Was in den Medien kaum erwähnt wird: Mazzone hat ihre politische Sporen im Jugendparlament im Genfer Vorort Versoix abverdient, das sie mitbegründen half. Was genau also sind diese Schattengewächse im Schweizer Polit-Garten?

«Jugendparlamente bieten Jugendlichen, die sich in ihrer Gemeinde, ihrer Stadt oder in ihrem Kanton engagieren wollen, eine praxisnahe Möglichkeit, politisch und gesellschaftlich etwas zu verändern», sagt Maurus Blumenthal, seit dreieinhalb Jahren Geschäftsleiter des Dachverbandes der Schweizer Jugendparlamente (DSJ)Externer Link. Sie bildeten eine Ergänzung zur politischen Bildung im schulischen Bereich und zur politischen Sensibilisierung im Verantwortungsbereich des Elternhauses.

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Politologe Georg LutzExterner Link bestätigt die Wichtigkeit ihrer Funktion. «Sie sind Übungsfelder und Spielwiese, auf denen Junge Vorstösse einreichen, darüber debattieren und Entscheide fällen können. Das ist sehr positiv, denn sie können diese Erfahrungen für ihre weitere politische Karriere nutzen», sagt der Professor für Politikwissenschaften an der Universität Lausanne.

Dass die Nachfrage bei Jungen zwischen 15 und 25 Jahren nach solch einem praxisnahen Übungsfeld durchaus vorhanden ist, zeigen die Beispiele von Laurent Christ, Noemi Ganarin und Adrian Willi. «Es gibt ein echtes Gemeinschaftsgefühl und macht grossen Spass, wenn man sich alle sechs Wochen mit lässigen Leuten trifft und Projekte realisiert», sagt der 17-jährige Christ, seit drei Jahren Mitglied des Jupa Köniz. In der Berner Vorortsgemeinde habe sich die Gemeindeexekutive verpflichtet, Postulate, Motionen und Interpellationen aus dem Jupa zu beantworten, lobt Christ.

«Stimmt das Gemeindeparlament über eines unserer Projekt ab, kann ein Jupa-Mitglied dieses während fünf Minuten präsentieren.» Umgesetzt wurden in Köniz etwa Sportnächte, die Erweiterung der Nachtbus-Route oder eine Kleidertausch-Box in den Gemeindebibliotheken.

20 Jahre DSJ

Der Dachverband Schweizer Jugendparlamente (DSJ) unterstützt und fördert Jugendparlamente in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein.

Zudem fördert er die politische Partizipation von Jugendlichen durch Angebote wie easyvote nach dem Motto «von der Jugend für die Jugend».

Der DSJ feiert dieses Jahr sein 20-Jahre-JubiläumExterner Link.

Die Feier findet anlässlich der Jahreskonferenz der Schweizer Jugendparlamente vom 30. Oktober bis 1. November 2015 im Kanton Tessin statt, an der rund 200 Jugendliche teilnehmen.

Mit dabei ist erstmals auch eine Delegation der jungen Auslandschweizer. Gleichzeitig mit den Schweizer Parlamentswahlen haben junge Expats das erste Jugendparlament der Fünften Schweiz gewählt, das 13 Mitglieder aus aller Welt zählt. 

Frei von Parteizwang

«Jupas sind ein guter Einstieg, um erste Erfahrungen zu sammeln ohne die Verpflichtung, gleich einer Partei beitreten zu müssen», sagt Noemi Ganarin, Präsidentin des Jugendparlamentes Wohlen im Kanton Aargau. Teamarbeit und die Möglichkeit, «etwas auf die Beine zu stellen», stehen für die 18-Jährige im Vordergrund. Auch könne sie jetzt viel besser argumentieren. «Megacool ist zudem, dass ich dabei so viele gute Leute aus der ganzen Schweiz kennengelernt habe», sagt Noemi Ganarin.

Die Einbindung der Jungen und die Funktion als deren Sprachrohr: Dies waren auch für den 18-jährigen kaufmännischen Lehrling Adrian Willi die Triebfedern, die ihn zur Plattform Jupa gebracht haben. Er gehört zu einer sechsköpfigen Kerngruppe, die das Jugendparlament Berner Oberland operativ aufgleist, das seit letztem Sommer besteht.

«In einer Randregion wie dem Berner Oberland kommt dem Jugendparlament eine besondere Bedeutung zu, kämpfen hier doch viele Gemeinden gegen die Abwanderung der Jungen. Sie haben ein Interesse an der Frage, wie sie die Jungen halten können», sagt Adrian Willi. Das Jupa sei deshalb wichtig, weil es Antworten liefern könne. «Es ist besser, wenn die Jungen selber formulieren, was sie benötigen, damit sie bleiben, statt dies älteren Generationen zu überlassen.»

Ein Jugendparlament sei etwas zwischen Legislative und Exekutive, sagt DSJ-Leiter Blumenthal und illustriert dies an den erwähnten Könizer Sportnächten. «Das Jupa hat das Projekt auf die politische Agenda gebracht. Nach dem grünen Licht der Behörden sind die Mitglieder auch selbst an der regelmässigen Durchführung in den Turnhallen beteiligt.»

Erlahmender Wille für Dienst an Gemeinschaft

Blumenthal sieht in den Jugendparlamente aber auch eine Art Trainingslager für das schweizerische Milizsystem. Der Hintergrund: Viele Gemeinden finden heute kaum mehr genügend Bürger, die bereit sind, in der Gemeindeexekutive oder in einer behördlichen Kommission Dienst an der Öffentlichkeit zu leisten.

«Es geht um die Zukunft des politischen Systems der Schweiz mit seinem Milizsystem. Eine Option besteht in der besseren Integration der Frauen, eine andere in jener von jungen Erwachsenen und Jugendlichen», sagt Blumenthal. Aber: «Im Fussball-Klub und in der Wirtschaft ist die Nachwuchsförderung ein wichtiges Thema. Dass dies aber auch die Gemeinden tun müssen, ist ihnen oft nicht so klar.»

Dabei hat Blumenthal durchaus Argumente in der Hand. «Mit Fallbeispielen können wir zeigen, dass in Orten mit Jugendparlamenten die Bereitschaft der ehemaligen Mitglieder grösser ist, später Gemeinderäte zu werden. Dies ist etwa in Interlaken im Berner Oberland der Fall.»

Jugendparlamente in der Schweiz

Erste jugendparlaments-ähnliche Institutionen stammen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (Stadt Bern).

Die ersten modernen Jugendparlamente gab es nach dem Zweiten Weltkrieg.

Jugendparlamente sind eine Plattform für engagierte und aktive Jugendliche. Sie setzen sich für die Anliegen der Jugendlichen ein, entwickeln Projekte und setzen diese um. 

Aktuell gibt es in der Schweiz 63 kommunale oder kantonale Jugendparlamente mit rund 1500 Mitgliedern.

Jüngstes Jupa ist dasjenige der Stadt Bern, dessen Mitglieder erstmals am 22. Oktober 2015 tagten.

Nur 2% aller Schweizer Gemeinden verfügen über ein Jugendparlament oder eine ähnliche Struktur. Gemäss Vision des DSJ sollen sich Jugendliche aus allen 2400 Gemeinden der Schweiz in einem Jupa engagieren können.

In den letzten Jahren hat sich der Dachverband auch zum Ziel gesetzt, die unterdurchschnittliche Partizipation der Jungen bei Abstimmungen und Wahlen zu erhöhen. «Unsere langfristige Vision ist die Erhöhung der Stimmbeteiligung der 18- bis 25-Jährigen von 34% auf 40%», so Blumenthal. Dafür betreibt der Verband das Projekt easyvoteExterner Link. Darauf werden die meist trockene Sprache und die Inhalte der Vorlagen auf die sprachliche Ebene der Jungen heruntergebrochen und multimedial aufbereitet. Auf der neuen Plattform engageExterner Link, die sich noch in der Pilotphase befindet, können Jugendliche Anliegen und Ideen einbringen, die dann von den Jupas umgesetzt werden.

Fragezeichen bei Repräsentativität und Legitimität

Politikwissenschaftler Georg Lutz hält fest, dass die formelle Rolle der Institution politisch aber nicht über ein Antragsrecht hinausgehen könne. «Die zentrale Frage lautet, wie es um die Repräsentativität und Legitimität eines solchen Gremiums steht. Ein Parlament ist repräsentativ, da durch eine Volkswahl legitimiert. Bei den Jugendparlamenten dagegen ist nicht einheitlich vorgegeben, wer wie Mitglied wird.» Je stärker die formale Rolle der Jugendparlamente sein solle, desto höher müssten folglich die Anforderungen an die Legitimität des Gremiums sein, sagt Lutz. «Überspitzt formuliert: Ich kann ja nicht mit einigen Kollegen ein Jugendparlament bilden und dann ein Sonderrecht in Anspruch nehmen und Forderungen an ein Gemeinde- oder Kantonsparlament stellen.»

Blumenthal kontert dies mit dem Hinweis, dass die meisten Jupa öffentlich-rechtlich organisiert seien, ähnlich einer kommunalen Baukommission mit behördlichem Auftrag.

Gefallen findet Lutz an easyvote. «Es ist eine löbliche Initiative, die teils doch eher trockenen Inhalte für die Jungen in eine bessere und damit attraktivere Sprache zu übersetzen.» Er möchte aber konkrete Zahlen sehen, die belegten, ob es gelinge, vermehrt Junge an die Urnen zu bringen. «Meine Skepsis gilt aber generell Massnahmen, welche die Erhöhung der Stimmbeteiligung zum Ziel haben», sagt er. 

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