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Das Zusammenleben mit dem Wolf ist möglich: Die Alp Aión macht es vor

ein Wolf
Laut dem Bundesamt für Umwelt gibt es in der Schweiz 36 Wolfsrudel, davon 11 grenzüberschreitende. Keystone / Michael Buholzer

Sergio und Marco Losa haben eine aufgegebene Alp wieder zum Leben erweckt. Mit einer neuen Bewirtschaftung, die den Angriffen des Wolfs standzuhalten scheint.

Das Zusammenleben von Wölfen und Nutztieren ist heute eine der grössten Herausforderungen für die Berglandwirtschaft. Und in Aión – einer historischen Alp auf dem Gebiet der Bündner Gemeinde Santa Maria oberhalb von Cauco im Val-Calanca-Park – scheint diese Herausforderung jedoch gemeistert worden zu sein. Zumindest bis jetzt.

Aber der Reihe nach. Der Druck durch Raubtiere in der italienischen Schweiz ist sehr hoch, und für viele Landwirt:innen ist die aktuelle Situation dramatisch. Die traditionelle Alpwirtschaft mit frei weidenden Schafen und Ziegen ist ein Modell, das mit der Ausbreitung des Wolfs langsam verschwindet.

Ohne einen Kurswechsel besteht die Gefahr, dass die ohnehin schon fragile Berglandwirtschaft eine ihrer Säulen verliert: die Alpwirtschaft mit Tieren, die in der Natur weiden. Ein kulturelles Erbe, das zu verschwinden droht – zusammen mit denjenigen, die es über Generationen bewahrt haben.

Die Zahlen zum Wolf

Auf nationaler Ebene hat das Bundesamt für Umwelt bis zum 31. Januar 2025 36 Rudel registriert, davon 25 in der Schweiz und 11 grenzüberschreitend. Der Abschuss von etwa 125 Wölfen im Zeitraum 2024/2025 wurde genehmigt.

Gleichzeitig wächst die Wolfspopulation im Tessin: Es gibt fünf bestätigte Rudel (Onsernone, Val Colla, Carvina, Lepontino und Gridone) und sechs etablierte Paare (drei mehr als 2024), mit einer geschätzten Gesamtzahl von 26-28 erwachsenen Wölfen, die nomadischen Einzeltiere nicht mitgezählt.

Während in den Kantonen Wallis und Graubünden die Behörden einschneidendere Massnahmen ergriffen haben – mit dem Abschuss von 34 Wölfen im Wallis und 48 in Graubünden zwischen September 2024 und Januar 2025 – wurden im Tessin im gleichen Zeitraum nur drei Tiere erlegt.

Im Jahr 2025 wurden im Tessin 23 Fälle von Rissen bestätigt, wobei 72 Schafe und Ziegen getötet wurden. Weitere 16 Vorfälle werden noch analysiert, und die Bilanz könnte auf 122 gerissene Tiere ansteigen.

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Die Frustration unter den Landwirt:innen wächst

Der Wolf hat keine Angst mehr und greift die Herden jetzt auch am helllichten Tag an. Unter den Landwirt:innen wachsen Frustration und das Gefühl der Machtlosigkeit.

Viele fühlen sich von den Institutionen im Stich gelassen, und einige haben bereits beschlossen, ihre Tätigkeit aufzugeben – oder erwägen es. Die Angst vor neuen Rissen, die Schwierigkeit, effektive Zäune in unwegsamem Gelände zu installieren, sowie die emotionale Belastung durch den Verlust der Tiere machen es immer schwieriger weiterzumachen.

Für viele von ihnen ist die Herde nicht nur Arbeit: Sie ist Familie, sie ist Identität. Und zu sehen, wie sie Tag für Tag bedroht wird, ist deshalb ein tiefer Schmerz.

Aufnahme eines Wolfes, der am Tag eine Herde angreift, trotz der Anwesenheit des Hirten und des Hirtenhundes:

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Die Alp Aión: Ein Beispiel für das Zusammenleben mit dem Wolf

Auf der Alp Aión gibt es heute über 1,5 Meter hohe Zäune, die unter Hochspannung (7000 Volt) stehen, einen professionellen Hirten, einen ausgebildeten Schutzhund, zwei Berghütten, einen Stall und eine mobile Unterkunft für die Nacht.

Dank der ständigen Anwesenheit des Hirten, des Hundes und eines innovativen Abschreckungssystems neben Hütte und Stall hat diese Alp bisher – trotz der Anwesenheit des Wolfes – keine Risse zu verzeichnen.

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Die Geschichte einer Wiedergeburt

2010 wurde die Alp Aión aufgegeben. 2017 haben Sergio Losa und sein Sohn Marco, unterstützt von Luca Plozza und Eros Savioni, die Alp mit einer völlig neuen Bewirtschaftung wiederbelebt – ermöglicht durch die Stiftung Bergwaldprojekt.

«Heute haben wir Gitterzäune, die unter starkem Strom stehen. Sie aufzubauen war eine grosse Arbeit, aber man muss sich anpassen. Früher sprach man nicht von Zäunen, aber jetzt mit dem Wolf ist es eben so», erklärt uns Sergio Losa, ein Landwirt aus Santa Maria, der seine Ziegen seit seiner Kindheit nach Aión bringt und die Alp jetzt zusammen mit seinem Sohn bewirtschaftet.

Zwischen Juni und September leben 200 Ziegen, 25 Schafe und 2 Esel auf der Alp, die verschiedenen Landwirt:innen aus Graubünden und dem Tessin gehören. Etwa die Hälfte der Tiere wird mit dem Lieferwagen aus dem Tessin in die Calanca gefahren.

«Ich schicke meine Walliser Ziegen in die Calanca, weil sie 800 Franken pro Stück kosten und ich es leid bin, dieses Geld dem Wolf zu schenken: Ich denke, dass sie in Aión sicherer sind», sagt Giacomo Martinetti, ein Landwirt aus Brione Sopra Minusio. «In der Calanca gibt es weniger Risse. Sowohl im Wallis als auch in Graubünden greifen sie durch und einige Wölfe werden eliminiert. Im Tessin hingegen… lassen wir das Thema lieber», fährt er fort.

«Meiner Meinung nach ist ein Zusammenleben von Ziegen, Schafen und Wolf möglich, vorausgesetzt, die Bewirtschaftung wird richtig gemacht. Aber wenn wir zu viele Wölfe im Gebiet haben, wird es schwierig, eine Alp zu bewirtschaften», pflichtet Marco Losa bei.

Die Reportage von RSI (auf Italienisch):

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Die Vision des Bergwaldprojekts

Das Bergwaldprojekt ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Trin, Graubünden, die seit 1987 aktiv ist und sich dem Schutz und der nachhaltigen Bewirtschaftung von Bergwäldern und Kulturlandschaften in verschiedenen Bergregionen verschrieben hat.

«Das Zusammenleben mit dem Wolf ist machbar: Es ist ein Problem, das man managen kann», versichert Riccardo Siller, Projektleiter des Bergwaldprojekts. «Wir machen es hier. Und wenn Tessiner Landwirte ihre Tiere hierherbringen, dann weil sie wissen, dass unser System funktioniert.»

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