Multis in der Schweiz: Darum sind sie bei Sozialleistungen so grosszügig
26 Wochen Elternzeit, Betriebskitas, kostenlose Gesundheitschecks: Multinationale Unternehmen wie Ferring, Philip Morris oder Nestlé gehen weit über das gesetzliche Minimum hinaus. Was steckt hinter dieser Grosszügigkeit?
Lynn Miller, eine britische Angestellte des Pharmagiganten Ferring in der Schweiz, ist heute eine glückliche Mutter. «Unsere Tochter Amelia, die bald zwei Jahre alt wird, ist eine absolute Freude, das Licht unseres Lebens», erklärte sie in der RTS-Sendung Basik.
Nachdem sie sieben Jahre lang versucht hatte, Mutter zu werden, gelang es ihr dank des Familienprogramms ihres Arbeitgebers. Ferring bietet Begleitung und finanzielle Unterstützung. «Für mich ist dieses Programm ein Gamechanger. Es geht wirklich darum, Transparenz zu fördern und das Schweigen zu brechen. Unfruchtbarkeit ist eine stille Krankheit», bezeugt sie.
Das Unternehmen geht sogar noch einen Schritt weiter. «Wir bieten bis zu 26 Wochen zu 100% bezahlten Elternurlaub für alle Eltern an», erklärt Christelle Beneteau, Leiterin der Personalabteilung bei Ferring. Das ist weit mehr als die 14 Wochen für Mütter und 2 Wochen für Väter, die das Schweizer Recht vorsieht. Ferring bietet auch Unterstützung für das Einfrieren von Eizellen, Adoptionen oder Urlaub bei Fehlgeburten an.
Gesetzliche Mindeststandards in der Schweiz weit übertroffen
Unterstützung bei der Familiengründung, Kinderkrippen in den Büros oder Finanzierungen im Gesundheitsbereich: Internationale Unternehmen begleiten ihre Angestellten so nah wie möglich durch ihr Leben, und das wirft Fragen auf.
Bei Philip Morris in Lausanne werden in der betriebseigenen Kinderkrippe 122 Kinder betreut. Carla Younès, eine Mitarbeiterin des amerikanischen Unternehmens, sagt: «Es ist wirklich toll, dass man morgens an einen Ort kommen und seine Kinder abgeben kann, ohne durch die Stadt laufen zu müssen.» Sie zahlt für diesen Service, aber einen Platz zu kriegen, ist bereits ein grosser Luxus. Der Tabakriese bietet auch einen Fitnessraum mit kostenlosen Gruppenkursen und kostenlosem Kaffee an und organisiert regelmässig Veranstaltungen.
Bei Nestlé in Vevey gibt es Räume, in denen man mit seinem Kind oder seinem Hund arbeiten kann. Die Angestellten profitieren von 40% Homeoffice und einem attraktiven Pensionsfonds. Schokoriegel gibt es nicht, dafür aber zwei kostenlose Früchte pro Tag. «Wir versuchen, Lösungen rund um Gesundheit und Wohlbefinden anzubieten, denn das ist etwas, das uns wirklich am Herzen liegt», sagt Eveline Franceschi-Kuhn, die im Personalwesen tätig ist.
Eine Strategie zur Gewinnung und Bindung von Mitarbeitern
Für Eric Davoine, Professor für Personalwesen in Freiburg, sind diese Sozialleistungen eine Form von «psychologischem Vertrag». «Man schafft schliesslich eine etwas engere und etwas tiefere soziale Bindung zu seinen Mitarbeitern», erklärt er. «Es ist eine Form der Entlöhnung, die auf individueller und persönlicher Ebene viel mehr Bedeutung haben wird als Geld.»
Die Unternehmen machen keinen Hehl aus ihrem Ziel: «Diese Leistungen bilden ein Gesamtpaket, das nicht nur Talente in das Unternehmen bringt, sondern auch dafür sorgt, dass die Talente, die im Unternehmen sind, sich dort wohl fühlen und bleiben», sagt Julian Pidoux, Sprecher bei Philip Morris.
Ein «goldenes Gefängnis»?
Diese Vorteile werfen jedoch auch Fragen auf. Patrick Sumi, der über 20 Jahre lang bei Nestlé beschäftigt war, warnt. «Wenn man aussteigt, merkt man, was einem alles geboten wird, und es ist eine Art goldenes Gefängnis», sagt er. «Es bindet einen mit Händen und Füssen an ein System, das gut eingespielt ist, um die Mitarbeiter an sich zu binden.»
Für ihn sind diese Leistungen «eine Möglichkeit, das zu ersetzen, was das moderne Unternehmen, besonders Grossunternehmen, ihren Angestellten heute nicht mehr bieten können», nämlich Sinn und Entfaltung.
Zwischen sozialem Fortschritt und wohlverstandenen Interessen
Auch wenn diese Sozialleistungen unbestreitbar dazu beitragen, den Alltag der Arbeitnehmer:innen zu verbessern, und vielleicht sogar bestimmte Gesetze zur Weiterentwicklung bewegen, dienen sie in erster Linie der Leistung und der Gewinnmaximierung der Unternehmen.
Professor Eric Davoine fasst es so zusammen: «Was auf dem Spiel steht, ist Produktivität, aber auch Loyalität, Engagement und Beteiligung.» Eine Erinnerung daran, dass die Erfüllung am Arbeitsplatz nicht auf eine Anhäufung von Vorteilen hinausläuft, so verlockend diese auch sein mögen.
Übertragung aus dem Französischen: Giannis Mavris
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