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Die Selbsthilfegruppe Psychose besucht er seit sieben Jahren

Gruppengespräch (Symbolbild): "Die Betroffenen treffen sich, tauschen sich aus und bringen sich gegenseitig weiter. Das gibt Kraft", sagt Herr Camenzind. © Keystone / Gaetan Bally

Am Tag der offenen Tür des Selbsthilfe-Netzwerk in Sarnen erzählen drei Engagierte von ihrer Krankheit und ihrem Umgang damit. Ein Blick in die Landschaft der Selbsthilfegruppen. In der Region, die man auch Urschweiz nennt, sind solche wenig verbreitet.

Am Dorfplatz von Sarnen decken sich Passanten mit Gipfeli und Erfahrungen ein. Es ist der erste Tag der offenen Tür der Selbsthilfegruppen im Kanton Obwalden. Ob es um Sucht, psychische oder chronische Erkrankungen geht: Betroffene treffen sich in Selbsthilfegruppen, teilen ihre Erlebnisse und stützen sich gegenseitig. 

Wenig Angebote auf dem Land

In den ländlichen Regionen der Schweiz ist das Netzwerk noch wenig dicht. Es ist offen, ob das daran liegt, dass in ländlichen Regionen weniger Menschen Hilfe suchen oder weil man Gefahr läuft, beim Treffen der Nachbarin zu begegnen. In der Schweiz gibt es über 2000 Gruppen – in Luzern, Obwalden und Nidwalden bloss 95. Die Dachorganisation Selbsthilfe Schweiz führt dies auf beschränkte Mittel zurück.

Für manche Themen existiert in der Innerschweiz noch gar keine Gruppe – und damit man den Weg ins regionale Selbsthilfezentrum in Luzern auf sich nimmt, muss man von dessen Existenz wissen und das Konzept von Selbsthilfe kennen. Deshalb die Gipfeli an diesem Tag. “Ein erstes Anklopfen”, nennt es eine der Organisatorinnen. Etwa 30 Besucherinnen und Besucher seien gekommen – man ist zufrieden.

“Das Konzept von Selbsthilfe hat mir immer eingeleuchtet”. Herr Camenzind (links) berichtet am Tag der offenen Tür in Sarnen von seinen Erfahrungen. swissinfo.ch

Herr Camenzind, der seinen Vornamen nicht in den Medien lesen will, moderiert zwei Selbsthilfegruppen in der Stadt Luzern, wo er aufgewachsen ist. Aber viele in seinen Gruppen kommen vom Dorf. In ländlichen Regionen würden schwierige Themen wohl eher tabuisiert, sagt der 41-Jährige. “Manche Leute sind der Anonymität wegen froh, eine Gruppe in der Stadt zu besuchen.”

“Betroffene bringen sich gegenseitig weiter”

Die Gruppe Psychose besucht Herr Camenzind seit sieben Jahren. Der erste Gang zum Psychiater – das Anerkennen, dass man erkrankt ist – sei für ihn der grössere Schritt gewesen als der erste Besuch einer Selbsthilfegruppe. “Früher arbeitete ich im Kaufmännischen. Dort erlebte ich die psychische Beeinträchtigung als Tabu”, erzählt er. Nachdem er die Branche verlassen hat, habe er ein grosses Bedürfnis zum Austausch gespürt. “Das Konzept von Selbsthilfe hat mir immer eingeleuchtet”, so Camenzind, “die Betroffenen treffen sich, tauschen sich aus und bringen sich gegenseitig weiter. Das gibt Kraft.”

Herr Camenzind ist ein bedächtiger Sprecher, aber in jedem seiner Worte dringt Freude durch. Selbsthilfe bedeutet ihm viel. Dabei finden die Treffen gar nicht so oft statt, wie man denken könnte: Eine seiner Gruppen trifft sich einmal pro Monat, die andere alle zwei Monate.

Gemäss Bundesamt für GesundheitExterner Link leidet bis zu einem Drittel der Schweizer Bevölkerung im Verlauf eines Jahres an einer psychischen Krankheit. Um die 43’000 Menschen in der Schweiz teilen ihre Situation in einer der 2000 Selbsthilfegruppen. Obwohl die Zahl der Gruppen steigt, sind das wenige, wenn man bedenkt, dass sich manche Selbsthilfegruppen an Partner und Verwandte von Betroffenen richten.

Der Städter findet es wichtig, dass auch in Obwalden Selbsthilfegruppen entstehen. “Es ist vielleicht weniger anonym und braucht deshalb noch mehr Mut.” Aber selbst dann, wenn man befürchtet, dass man jemanden kennt, solle man diese Hürde nehmen. “Das Besprochene bleibt in der Gruppe und alle können sich öffnen.”

Je besser die Hilfe, desto tiefer die Kosten

Filomena Russo hält das Klischee über ländliche Regionen für falsch. Im Gegenteil. “Den Gang in eine Selbsthilfegruppe erlebe ich in den Städten als Tabu. Dort wird das Thema höchstens angesprochen, wenn jemand offenlegt, dass er betroffen ist”, sagt die 59-Jährige. “In Luzern, Zug oder Zürich ist die erste Frage immer: Erfährt der Arbeitgeber davon? Was für Leute kommen denn da?” 

Auf dem Land sei es ungezwungener und auch auf dem Land sensibilisieren Kantone heute aktiv. “Es gibt eine Patientenbewegung im Aufbruch und die Behörden haben eingesehen, wie wichtig Öffentlichkeitsarbeit für psychische Gesundheit ist: Je früher jemand Hilfe sucht, desto tiefer sind die Gesundheitskosten.”

Es habe sich viel getan in den letzten zehn Jahren – auch in ihrem eigenen Leben: Als Russo vor neun Jahren zum ersten Mal in einer Selbsthilfegruppe schnupperte, wurde sie mit der Gruppe nicht warm und ging nach drei Treffen nicht mehr hin. Heute moderiert sie Selbsthilfegruppen, arbeitet für einen Betroffenen-Verein und in einer psychiatrischen Klinik.

Weil es mit der Selbsthilfegruppe nicht passte, habe ihr der Psychiater geraten, eine eigene Gruppe zu gründen. “Und ich so: Wie macht man das?”, erzählt sie. Sie absolvierte zunächst eine Peer-Ausbildung. Diese zeigt Betroffenen auf, wie sie ihre eigenen Erfahrungen teilen und anderen Lösungen aufzeigen können. 

Fast ein Jahrzehnt später ist noch immer Verwunderung hörbar, wenn Russo sagt: “Ich habe die Gruppe auf meine Bedürfnisse ausgerichtet und dann gemerkt, dass es Leute gibt, die dasselbe suchen wie ich. Wir waren zusammen auf Ausflügen, haben gemalt, gebastelt, gekocht.”

Fabienne Fluri will eine eigene Gruppe aufbauen. swissinfo.ch

“Die Krankheit gehört zu meiner Geschichte”

Die 25-jährige Fabienne Fluri hat keine Erfahrung mit Selbsthilfegruppen, weil es für sie keine gibt.

“Das zeigt ja schon, wie man das Thema unter den Teppich schiebt.” Sie sei lange in einer Klinik gewesen, habe dort Gruppentherapien erlebt – und würde jetzt gerne eine Selbsthilfegruppe besuchen. Aber in der Region fehlt ein Betroffenenkreis für Esstörungen. “Dauernd wird gelästert, wer ab- oder zugenommen hat. Aber direkt angesprochen wird das Thema nie.” Dabei sei genau das so entscheidend: Das direkte Ansprechen helfe Betroffenen zu erkennen, dass sie erkrankt sind. “Wenn wir offen kommunizieren, kann die Gesellschaft anerkennen, dass Esstörungen Krankheiten sind.” 

Nun will Fluri mit einem Aufruf ihre eigene Gruppe aufbauen. Werden sich viele melden? “Ich weiss nicht. Wir sind auf dem Land. Die Zentralschweiz ist ein wenig verschlossen, aber ein Versuch ist es wert.” Angst davor, dass sie in der Gruppe Bekannten begegnet, hat Fluri jedenfalls keine. “Die Krankheit gehört zu meiner Geschichte. Ich steh dazu – und das hilft mir, aus dieser Krankheit rauszukommen.”

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