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Ein Tell kehrt in die Schweiz zurück

Adam Tellmeister präsentiert seinen neuen Schweizer Pass, der ihm die Rückkehr in die Schweiz ermöglicht. swissinfo.ch

Über 20 Jahre lang lebte Adam Tellmeister als Sans-Papier in Berlin. Jetzt darf der Künstler in die Schweiz zurückkehren. Nach einer Odyssee, wie sie wohl kaum ein Schweizer vor ihm erlebt hat.

Auf diesen Moment hat Adam Tellmeister lange gewartet. Behutsam bricht er die buttergelb glänzende “Züpfe” in der Mitte durch und hebt triumphierend die eine Hälfte in die Höhe: Aus dem duftenden Zopfinnern leuchtet etwas Feuerrotes – sein neuer Schweizer Pass.

Über 20 Jahre lang lebte Adam Tellmeister als Papierloser in Berlin. 1986 verweigert der gebürtige Wyssenachener, der sich als Jugendlicher in der Schweizer Friedensbewegung engagiert, den Militärdienst. Einen Zivildienst als Alternative gibt es damals noch nicht. Um der Haftstrafe zu entgehen, flüchtet Tellmeister, der damals noch Adam Meister heisst, nach Deutschland.

Mit seiner Geschichte stösst er im Nachbarland jedoch auf Unverständnis: In Essen, wo er einen Asylantrag stellt, weist man ihn ab. “Die haben gefragt, wo die versteckte Kamera ist”, erinnert sich Tellmeister.

Als er zusammen mit Friedensaktivisten im Ruhrgebiet mehrere unbewilligte Aktionen organisiert, fällt der Querkopf bei den Behörden endgültig durch. Sein Asylantrag wird abgelehnt, und Tellmeister setzt sich über die grüne Grenze nach Holland ab.

Pinkelpause zur Flucht genutzt

Die Odyssee geht weiter. Der Schweizer Fahnenflüchtling beantragt Asyl in den Niederlanden und bekommt einen entsprechenden Ausweis. Auf dem Foto prangen die Wörter “G. P. Adam”, ein Kürzel für die Gemeindepolizei Amsterdam.

Der Flüchtige kombiniert es mit seinem verlorenen Familiennamen und bastelt sich so seine neue Identität: Adam Tellmeister. Der Mythos Tell wird künftig eine zentrale Figur in seinem Kunstschaffen. Doch dann erwischt ihn die Schweizer Polizei doch noch. Als er für eine Ausstellung inkognito in der Schweiz weilt, wird er beim Sprayen von Graffiti geschnappt und kommt vor Militärgericht. “Während der Verhandlung gab es eine Pinkelpause, und das Klo war in der Nähe des Ausgangs”, erzählt Tellmeister. Also sei er abgehauen, ein Freund habe ihn im Kofferraum eines Autos zurück nach Deutschland geschmuggelt.

Kurz vor dem Mauerfall geht Tellmeister in die DDR, stellt auch dort einen Asylantrag und sucht sich wie viele Künstler eine Bleibe im Prenzlauer Berg. Ein Schreiben vom “Zentralen Aufnahmeheim des Ministerium des Innern” der DDR vom 25. Juli 1990 bestätigt den Eingang seines Asylantrags – bearbeitet wird sein Fall allerdings nicht mehr.

Ein Landmensch in Berlin

Fortan lebt Tellmeister als Papierloser in Berlin. Mit allen Konsequenzen: Als er sich einmal die Hand bricht, flickt ihm ein bulgarischer Tierarzt notdürftig die Knochen wieder zusammen. Immerhin schafft er sich in den folgenden Jahren einen Namen als Künstler. Sein Herzblut gehört der Freskenmalerei.

Tellmeister feilt so lange an seiner Technik, bis es ihm mit Hilfe von Chemikalien und speziellen Farben gelingt, eine räumliche Tiefe und damit dreidimensionale Bilder auf die Leinwand zu bringen. Doch glücklich ist der Emmentaler mit seiner Situation als Rechtloser nicht, genauso wenig wie mit dem Alltag in der Grossstadt. “Ich bin ein Landmensch”, sagt er. Immer wieder versucht er vergeblich, über Anwälte und Kontakte im Aussenministerium, auf seinen Fall aufmerksam zu machen.

100 Willkommensgrüsse

Vor einem Jahr schliesslich informierten ihn die Schweizer Behörden, dass das Militärstrafverfahren verjährt sei. Einer Rückkehr steht damit nichts mehr im Weg. Adam Tellmeister kann sogar durchsetzen, dass sein neuer Pass auf den Künstlernamen ausgestellt wird. Kommenden Frühling will er die “Heimreise” antreten.

Bereits in diesen Tagen hat er die bevorstehende Rückkehr gefeiert und Schweizer Kunstschaffende gebeten, ihm ein “Heimatpäckli” nach Berlin zu schicken. Über 100 Willkommensgrüsse aus allen Ecken der Schweiz sind so zusammengekommen: handbemalte Karten, Videos, Fotografien und Installationen, die sich kritisch und humorvoll mit der heutigen Schweiz auseinandersetzen.

Die ausgepackten Pakete hat Tellmeister zu einer Ausstellung zusammengestellt, die seit Samstag in der Galerie “Substitut” eröffnet ist. Und an diesem Tag schliesst sich der Kreis. Im Rahmen einer Performance wird dem wiedergeborenen Eidgenossen der Zopf gereicht, in dem sich seine neue Schweizer Identität verbirgt. “Das ist ein grossartiger Tag für mich”, sagt ein sichtlich bewegter Tellmeister. Den neuen Pass, so der Künstler, werde er heute Nacht sogar mit ins Bett nehmen.

Die Aktion und Ausstellung “Heimatpäckli” wurde in Zusammenarbeit mit Lillian Fellmann, Leiterin der Kunsthalle Luzern, kuratiert. Die Pakete werden im September 2009 Teil einer Retrospektive von Adam Tellmeister in der Kunsthalle Luzern sein.

swissinfo, Paola Carega in Berlin

Das Substitut in Berlin versteht sich als ein nicht profitorientierter Ausstellungsraum, der Kunstschaffende aus der Schweiz in Berlin zeigen und vernetzen will.

Die kleine Galerie ist ein Projekt von Urs Küenzi, Kunsttheoretiker und Gründer des White Space in Zürich.

Längerfristig soll das Substitut den gegenseitigen künstlerischen Austausch zwischen der Schweiz und Berlin fördern.

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