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Polen nehmen Deutschen keine Jobs weg

Hat eine schwierige Aufgabe: Die Bundesagentur für Arbeit in Schwerin. swissinfo.ch

An der hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist nicht die EU-Erweiterung schuld. Trotzdem sehen sich Bevölkerungs-Teile benachteiligt.

Im Vorfeld der Abstimmung über die Personenfreizügigkeit am 25. September hat sich swissinfo im Osten Deutschlands umgesehen.

“Hier in Schwerin hat niemand Arbeit. Die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg, ich bin weniger wert als ein Ausländer. Was passiert, das siehst du ja: Wir sitzen hier und saufen”, sagt Frank*.

Der 38jährige ehemalige Sanitär-Installateur zeigt in die Runde: Ungefähr 15 Männer sitzen hinter dem 50-Cent-Mini-Laden gegenüber der Endstation der Tramlinie 2. Kinder fahren auf Mini-Fahrrädern über den holprigen Boden, graben einen kleinen Sandhaufen um.

Junge Mütter schieben ihre Kinderwagen zu den Vätern in der Runde. Jemand bringt frisches Bier, gelegentlich kommt es zum lautstarken Streit. “Wir leben im Ghetto, die Kinder verwahrlosen, wir haben keine Perspektive. Seit zwei Monaten hab ich kein Geld gekriegt.”

Zu diesen Worten passen die trostlosen, verrottenden Plattenbauten im Quartier. Man wähnt sich weit entfernt von der renovierten, herausgeputzten Innenstadt von Schwerin, der Landeshauptstadt des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Wir sind auf dem “Grossen Dreesch”.

Arbeitslosigkeit in “Klein-Moskau”

Eine kilometerlange Platten-Siedlung aus den 1970er-Jahren, früher wohnten hier rund 60’000 Menschen. Nur ein Abschnitt wurde nach der Wende saniert, in den beiden andern wohnen vor allem Sozialhilfe-Bezüger und Russendeutsche – “Klein-Moskau” nennt der Volksmund die Siedlung der Spätaussiedler.

“Auf dem Grossen Dreesch gibt es wohl über 50% Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung”, sagt eine Sozialarbeiterin, die ich in ihrem Büro in einem umfunktionierten Kindergarten besuche. Nebenan betreibt die Caritas einen Sozialladen, gegenüber steht ein Obdachlosenheim.

Bundesagentur für Arbeit

Die meisten Menschen hier kennen die Schweriner Niederlassung der “Bundesagentur für Arbeit” am Margaretenhof.

Im weitverzweigten, dreistöckigen Riesenbau kümmern sich rund 100 Beraterinnen und Berater um 13’000 bis 14’000 Arbeitslose. Im ganzen Bezirk waren im Juli etwas über 40’000 Personen ohne Stelle.

Der Amtsleiter Helmut Westkamp spricht denn auch Klartext: “Von den 40’000 sind fast 40% Langzeitarbeitslose, also länger als ein Jahr arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 15%. Es ist nicht absehbar, dass sich schnell etwas ändern wird.”

Verantwortlich dafür macht er die schwache Wirtschaft der ländlichen Region und den Strukturwandel, nicht aber die EU-Erweiterung. “Wir haben hier keine Auswirkungen gespürt. Es gibt keine Indikatoren, dass die Erweiterung zu einer Steigerung der Arbeitslosigkeit geführt hat.”

Spanier ersetzt Deutschen auf Schweizer Kran

Gleich tönt es in der Staatskanzlei, einen Steinwurf vom Schweriner Schloss entfernt, das in einem der sieben Seen der Stadt steht. “Nach den ersten Erfahrungen hat sich nicht viel geändert”, sagt Michael Mattner, Referatsleiter in der Europa-Abteilung Mecklenburg-Vorpommerns.

“Die sehr starken Befürchtungen haben sich in diesem Jahr nicht bewahrheitet.” Die Übergangs-Bestimmungen würden greifen, die Polen den Deutschen keine Jobs wegnehmen.

Das zeigt auch die Geschichte von Hubert*: “Im letzten Jahr habe ich auf Schweizer Baustellen als Kranführer gearbeitet”, erzählt er. “Die waren zufrieden mit mir.” 28 Franken habe er pro Stunde verdient.

“Dann haben sie plötzlich gesagt, dass ich gehen kann. Sie hätten einen billigeren Kranfahrer gefunden – einen Spanier.” Jetzt sitzt er in der Runde auf dem Grossen Dreesch und wartet auf nichts. “Mit meinen 56 Jahren bin ich in Deutschland nicht mehr vermittelbar.”

Gewerbe nicht unter Druck

Die Übergangsbestimmungen kontingentieren die Arbeiter aus dem Osten. Die Dienstleistungs-Freizügigkeit – die mit Ausnahme fürs Bauhauptgewerbe eingeführt ist – erlaubt hingegen Selbstständigen aus den neuen EU-Ländern, auf dem deutschen Markt selber aktiv zu werden.

Aber auch hier sei, so Mattner von der Staatskanzlei, kein Druck aufs lokale Gewerbe auszumachen. “Wir haben keine Rückmeldungen der Industrie- und Handelskammer oder von den Unternehmen selber, dass sich hier etwas gravierend verändert habe.”

Er verweist dagegen auf deutsche Firmen, die unterdessen ihre Fühler nach Polen und ins Baltikum ausgestreckt hätten.

Alles bleibt beim Alten

Sogar beim Politikum der Saisonarbeiter hat sich nichts geändert: Deren Anzahl liege, so Westkamp von der Arbeitsagentur, bei jährlich rund 3000 ausländischen Arbeitskräften in und um Schwerin.

Einfach deutsche Arbeitslose für die Ernte einzusetzen ist problematisch: “Oft genug passiert es, dass deutsche Arbeitslose nicht bereit sind, diese enorme körperliche Arbeit zu diesem Lohn wahrzunehmen. Vermitteln wir diese Leute, sind sie am zweiten Tag krank oder liefern am dritten Tag nicht mehr die erforderliche Qualität.”

Auch für die beiden Russisch sprechenden Jugendlichen im Trägerleibchen vor der Arbeitsagentur hat sich nicht viel geändert. Sie blättern in den Formularen, die ihnen mitgegeben wurden.

Auf die Frage, ob ihnen etwas angeboten wurde, antworten sie mit einem knappen Nein. Dann machen sie sich auf den fast einstündigen Weg durch die ganze Stadt, zurück auf den Grossen Dreesch.

swissinfo, Philippe Kropf, Schwerin


*Name von der Redaktion geändert

Im Juli 2005 waren in Deutschland 4’772’000 Personen arbeitslos gemeldet, die Arbeitslosenquote betrug 11,5%.
1’817’000 Personen davon sind länger als ein Jahr arbeitslos gewesen, 125’000 sind Jugendliche unter 20 Jahren.
Sie durchschnittliche Arbeitslosenquote Deutschlands im Jahre 2004 lag bei 10,5%.
In den fünf neuen Bundesländern ist sie knapp doppelt so hoch. In Mecklenburg-Vorpommern liegt sie beispielsweise bei 20,5%.

Das Gewerbe hat von der Erweiterung der Europäischen Union wenig gespürt, versucht aber gelegentlich bereits den Sprung nach Polen oder ins Baltikum.

Die hohe Arbeitslosigkeit insbesondere in den neuen Bundesländern ist viel mehr auf Strukturprobleme zurück zu führen.

Trotzdem fühlen sich Menschen benachteiligt und geben ausländischen Arbeitnehmern die Schuld an der eigenen Arbeitslosigkeit.

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