
Schweiz, Schottland, Norwegen: So nahm man den Fahrenden ihre Kinder weg

Im 20. Jahrhundert wurden in der Schweiz Kinder von jenischen Familien systematisch zwangsadoptiert – mit dem Ziel, ihre Lebensweise zu zerstören. Vergleichbare Praktiken existierten auch in Norwegen und Schottland, wo Behörden und Hilfswerke über Jahrzehnte gegen Menschen mit fahrender Lebensweise vorgingen.
Von 1926 bis 1973 nahmen Hilfswerke und Behörden jenischen Familien in der Schweiz die Kinder weg. Ende Februar anerkannte der Bundesrat dies als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Mit dem Ziel, Kulturen mit fahrender Lebensweise auszulöschen, stand die Schweiz im Europa des 20. Jahrhunderts allerdings nicht allein da.
Während antiziganistische Denkmuster in allen Staaten vorherrschten und es vielerorts zu systematischen Verbrechen kam, gleichen sich die Praktiken in Schottland, Norwegen und der Schweiz.
In allen drei Ländern verfolgten Hilfswerke jahrzehntelang das Ziel, die fahrende Lebensweise mit Kindswegnahmen auszulöschen. Dies geschah unter dem Deckmantel der Fürsorge und mit staatlicher Unterstützung.
Was Elizabeth Connelly erlebte
1910, etwas ausserhalb der schottischen Stadt Perth: Elizabeth Connelly sitzt allein mit ihren drei Töchtern in ihrem Zelt, als der «cruelty man» auftaucht. Der Inspektor der schottischen Vereinigung «for the Protection of Cruelty to Children» nimmt alle mit aufs Amt.
Dort muss Elizabeth ein Dokument unterschreiben. Was die leseunkundige Traveller-Frau nicht weiss: Sie willigt damit ein, ihre Töchter wegzugeben. Gracie, Mary und Margaret, zwischen sechs und zehn Jahren alt, werden in ein Kinderheim gebracht. Später werden sie nach Kanada verschifft und müssen dort als Haushaltskräfte arbeiten. Ihre Mutter sehen sie nie wieder.

Arne Paulsrud kannte seine Herkunft nicht
1944, in der norwegischen Kleinstadt Tollnes: Der Romani Arne Paulsrud ist sieben Jahre alt, als man ihn seiner Mutter wegnimmt und in ein Kinderheim steckt. Im Heim erklären ihm die Betreuenden, seine Mutter sei «unfähig» und hätte keine Kinder kriegen dürfen. Den beiden wird verboten, sich zu sehen.
Erst als Erwachsener, nach dem Tod seiner Mutter, erfährt Arne Paulsrud von seiner Romani-Herkunft. Seine Mutter hatte diese aus Angst vor den Behörden geheim halten wollen.
Als Kind war sie selbst ihren Eltern weggenommen worden und in einer Pflegefamilie aufgewachsen.
Ursula Kolleger wurde als Baby von der Polizei geholt
1952, im Dorf Rüti in der Schweiz. Die Polizei holt Ursula Kollegger, gerade mal sechs Monate alt, und steckt sie in ein Kinderheim. Sie soll getrennt von der Mutter zur «Sesshaftigkeit» erzogen werden.
Das jenische Mädchen kommt in ihren Kindheits- und Jugendjahren von einem Heim ins nächste. Jeglicher Kontakt zur Mutter ist untersagt.
In Europa leben 12 Millionen Roma und Romnja – damit stellen diese die grösste Minderheit des Kontinents dar. Geeint wird die äusserst heterogene Bevölkerungsgruppe von der gemeinsamen Sprache Romanes. Die allermeisten Rom:nja pflegen keine fahrende Lebensweise, sie wurden aber seit jeher von der Mehrheitsbevölkerung als fahrende Minderheit betrachtet. Dies ist ein Resultat ihrer Verfolgungsgeschichte.
Als Sinti:zze bezeichnen sich jene Romn:ja, die seit Jahrhunderten in West- und Mitteleuropa leben. Insbesondere in Deutschland ist die Bezeichnung sehr geläufig. In Norwegen bezeichnen sich die dort ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert lebenden Romn:ja als Tater oder Romani, womit sie sich von denjenigen Romn:ja abgrenzen, die nach der Aufhebung der Sklaverei 1856 im Gebiet des heutigen Rumänien nach Norwegen kamen.
Traveller und Jenische
Die in Schottland und Irland lebenden Traveller bezeichnen sich selbst als Nawken respektive Mincéirí. Sie sind nicht mit der Bevölkerungsgruppe der Romn:ja verwandt und sprechen eine eigene Sprache, wurden von der Mehrheitsgesellschaft jedoch auch als «Fahrende» betrachtet und sind von denselben antiziganistischen Stereotypen und Diskriminierungen betroffen.
Dasselbe gilt für die Jenischen, die in der Schweiz, aber auch in den Nachbarsländern Frankreich und Deutschland leben und eine eigene Sprache pflegen.
Tausende Kilometer und etliche Jahre liegen zwischen den Erlebnissen von Elizabeth Connelly, Arne Paulsrud und Ursula Kollegger. Und doch ähneln sich ihre Geschichten.
Das tun sie nicht zufällig. Denn seit dem 16. Jahrhundert wurde in Nord-, Mittel- und Westeuropa gegenüber jenen, die abwertend als «Zigeuner» oder «Vagabunden» bezeichnet wurden, eine zutiefst repressive Praxis verfolgt.
Man verwehrte ihnen, sich niederzulassen oder das Bürgerrecht zu erwerben. Sie wurden an den Grenzen abgewiesen, unter drastischen Strafandrohungen verjagt und zwischen den Staaten hin- und hergeschoben.
Unser Artikel über die Geschichte der Verfolgung der Roma und Sinti in der Schweiz:

Mehr
Die Schweiz errichtete ein Bollwerk gegen Roma
Ab Ende des 19. Jahrhunderts erfasste man ihre Personendaten polizeilich in spezifisch dafür eingerichteten «Zigeunerregistern». Informationen, die die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg für den Völkermord an Rom:nja, Sinti:zze und Jenischen nutzten.
Eine Verordnung von Kaiserin Maria Theresia
Doch die Vernichtung einer Volksgruppe beginnt nicht erst mit Morden. 1773 verordnete die habsburgische Kaiserin Maria Theresia per Gesetz, dass Kinder von Rom:nja ab dem Alter von vier Jahren aus ihren Familien genommen und fremdplatziert werden sollten. Wie konsequent diese Gesetze wirklich durchgesetzt wurden, ist heute unklar. Maria Theresia setzte damit erstmals Ideen um, die im 20. Jahrhundert in Ländern wie der Schweiz breite Praxis wurden.
In der Schweiz verfolgte das Hilfswerk Pro Juventute ab 1926 das Ziel, jenische Kinder aus ihren Familien zu nehmen, um sie «sesshaft zu machen» und so das «Übel der Vagantität» zu bekämpfen. 600 Kinder nahm das Hilfswerk bis 1973 ihren Familien. Neben der Pro Juventute waren auch Behörden und kirchliche Organisationen beteiligt.
Insgesamt geht man heute von 2000 Betroffenen aus.
In diesem Artikel erfahren Sie mehr über die Geschichte der Kindswegnahmen in der Schweiz:

Mehr
Als die Schweiz die Kultur der Jenischen auslöschen wollte
Die «Norsk misjon blant hjemløse» («Mission unter den Heimatlosen») wurde bereits 1897 mit dem Ziel gegründet, gegen den «vagabundierenden Lebensstil» der norwegischen Romani, auch «Tater» genannt, vorzugehen.

Lillan Støen, Sekretärin von Taternes Landsforening, der grössten Dachorganisation norwegischer Romani, erklärt gegenüber SWI swissinfo.ch: «Die Mission nahm ein Drittel aller Tater-Kinder aus ihren Familien und platzierte sie in Heimen oder bei Pflegeeltern.» 1500 bis 2000 Kinder hatte die «Norsk misjon» zwischen 1900 und 1989 ihren Eltern weggenommen.
Romani sollten in Svanviken umerzogen werden
Ausserdem gründete die Mission 1908 die Arbeitskolonie Svanviken. Romani sollten dort zu einem «sesshaften Leben» umerzogen werden. Sie mussten strikten Regeln und Stundenplänen folgen und mindestens fünf Jahre in der Kolonie bleiben. «Fügte man sich nicht, konnten einem die Kinder weggenommen werden», so Støen.
Ähnliche Assimilationsprogramme richteten sich auch gegen Traveller in Schottland. 1908 erliess das britische Parlament den Children Act. Dieser ermöglichte es unter Anderem Hilfswerken, Travellern ihre Kinder wegzunehmen, wenn sie diese weniger als 250 Tage im Jahr in die Schule schickten. In den folgenden Jahren verfolgte die «Scottish Society for the Protection of Cruelty to Children» eine ähnliche Praxis wie die Pro Juventute und die «Mission unter den Heimatlosen».
Kinder, wie die drei Mädchen von Elizabeth Connelly, wurden aus ihren Familien entrissen – und teilweise nach Übersee verschifft. «Es war billiger, sie in den ehemaligen Kolonien zu verdingen, als in Schottland zur Schule zu schicken», erklärt Dr. Lynne Tammi-Connelly gegenüber SWI.
Die Urenkelin von Elizabeth Connelly gehört heute zu den wichtigsten Traveller-Aktivist:innen in Schottland und setzt sich seit Jahren für die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels ein.
Vorstellungen aus der Rassenlehre
Hinter dieser Politik steckte ein Gedankengut, das eng mit rassistischen und eugenischen Vorstellungen verknüpft war. So erachtete beispielsweise der Bündner Psychiater Johann Joseph Jörger, der ab 1905 in dem Feld tätig war, «Vagantität» als ebenbürtig mit «gefährlichen Erbkrankheiten». Jörger erstellte für seine Theorien Namenslisten und Stammbäume jenischer Familien, für welche Pro Juventute die Daten lieferte.
In Norwegen, insbesondere in der Arbeitskolonie Svanviken, wurden Romani-Frauen zu Sterilisationen gedrängt und gezwungen, weil man glaubte, der «vagabundierende Lebensstil» sei vererbbar.
In Schottland wiederum hiess man 1938 den deutschen Nazi-Eugeniker Wolfgang Abel willkommen, der dort an Travellern für seine «Rassen-Studien» Messungen durchführen konnte.
Dass die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs bis zu 500’000 Rom:nja und Sinti:zze umgebracht hatten, änderte am Umgang mit Kulturen mit fahrender Lebensweise nichts.
Wie kam es zu einem Ende der Politik der Verfolgung?
In vielen kommunistischen Staaten im Osten Europas, so zum Beispiel in Polen und in der Tschechoslowakei, wurden Rom:nja nach 1945 unter Androhung von Kindswegnahmen oder Inhaftierung in neu errichtete Ghettos gezwungen.
Ebenfalls in der Tschechoslowakei wurden Romnja ab 1966 ohne ihre Zustimmung oder unter Zwang sterilisiert – eine Praxis, die bis in die 2000er-Jahre andauern sollte. In vielen Ländern schränkten die Behörden ausserdem die Möglichkeit ein, mit einem Wohnwagen unterwegs zu sein. Man schloss Stand- und Transitplätze. Die kulturelle Assimilation wurde weiterhin vorangetrieben.
In der Schweiz setzten sich die Kindswegnahmen bis 1973 fort. In Schottland wurden Traveller von 1940 bis 1980 gezwungen, sich in maroden Siedlungen niederzulassen. In Norwegen hatte die Arbeitskolonie Svanviken bis 1988 Bestand.
Der öffentliche Protest regte sich in diesen Ländern erstmals in den 1970er-Jahren. Dank journalistischer RecherchenExterner Link und DokumentarfilmenExterner Link. Aber vor allem begannen Rom:nja, Sinti:zze, Jenische, Romani und Traveller damit, sich politisch zu organisieren und sich für ihre Rechte einzusetzen.
Bis zur offiziellen Anerkennung des geschehenen Unrechts sollte es aber noch Jahrzehnte dauern.

Mehr
Weggenommene Kinder: «Was den Fahrenden passiert ist, gehört nicht der Vergangenheit an»
Editiert von Benjamin von Wyl

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch