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Weggenommene Kinder: «Was den Fahrenden passiert ist, gehört nicht der Vergangenheit an»

Jenische in der Schweiz 1958
Eine Gruppe Jenischer Männer, aufgenommen 1958 auf einem Standplatz in Zürich. Keystone

Der Bundesrat hat die Verfolgung Jenischer als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Dies steht in Norwegen und Schottland noch aus. Aber auch in der Schweiz brauchte es Jahrzehnte der Aufarbeitung bis zu diesem Schritt.

Die Fremdplatzierungen von Kindern aus jenischen Familien von 1926 bis 1973 stellen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Zu diesem Schluss kommt das Rechtsgutachten des Völker- und Strafrechtsprofessors Oliver Diggelmann. Die Schweiz hat diesen Befund anerkannt.

Das Innenministerium hatte Diggelmann vor rund einem Jahr damit beauftragt, zu klären, ob die Kindswegnahmen den Tatbestand eines «Genozids» beziehungsweise eines «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» erfüllen. Zwei Minderheitenorganisationen hatten zuvor eine Anerkennung als Genozid verlangt.

Anerkennung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Ende Februar veröffentlichte der Bundesrat das Gutachten und anerkannte den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Im Gutachten ist festgehalten, dass die Kindeswegnahmen und die beabsichtigte Zerstörung von Familienverbänden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden müssen. Für eine Einstufung als Genozid sei hingegen die Absicht zur «physischen Vernichtung» nicht ausreichend belegt.

Ausserdem betont das Gutachten, dass die Verfolgung der Jenischen ohne staatliche Mithilfe nicht möglich gewesen wäre.

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Die Schweiz gehört damit zu den ersten europäischen Ländern, die vergangene Vergehen im Umgang mit Kulturen fahrender Lebensweise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt.

Viele Länder entschuldigen sich bloss

Neda Korunovska
Neda Korunovska ist Vice President for Analytics & Results bei der Roma Foundation for Europe zur Verfügung gestellt

Erfahrungsgemäss seien Staaten sehr zögerlich, was eine Anerkennung und Wiedergutmachung der eigenen antiziganistischen Geschichte angehe, erklärt Neda Korunovska von der Roma Foundation for Europe. So wurde Porajmos, der Mord an bis zu einer halben Million Rom:nja und Sinti:zze während des Zweiten Weltkriegs, erst 1982 als Genozid anerkannt.

Korunovska sagt weiter: «Die meisten Länder beschränken sich auf eine offizielle Entschuldigung. In den wenigsten Fällen kommt es zu einer finanziellen Entschädigung – sogar, wenn die Vergehen eigentlich gut dokumentiert sind.» Eine der wenigen Ausnahmen sei Tschechien, das Romnja seit 2022 für Zwangssterilisationen zwischen 1966 und 1990 entschädigt.

Auch anderswo, wo ähnliche Praktiken gegen Kulturen mit fahrender Lebensweise System hatten, verfolgen Betroffenenorganisation die Anerkennung der Verbrechen durch die Schweiz. Sie stösst dort auf positive Reaktionen.

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Es sei ein „riesiger Unterschied“, ob sich eine Regierung für Vergehen nur entschuldigt oder diese als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt, sagt Lillan Støen, Sekretärin der norwegischen Romani-Organisation Taternes Landsforening.

Ein wichtiger Aspekt: Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht. Täter:innen können auch Jahrzehnte später noch zur Verantwortung gezogen werden.

Wiedergutmachung und Entschuldigung in Norwegen

Norwegen hat die Verfolgung der Romani bislang nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Dies könnte vielleicht folgen. Auch in der Vergangenheit verlief die Aufarbeitung in Norwegen im Vergleich zur Schweiz später. Während sich in der Schweiz bereits in den 1970ern und 1980ern erste Selbstorganisationen von Jenischen und Sinti:zze bildeten, passierte dies in Norwegen erst in den 1990ern. Durch deren Druck und die öffentliche Berichterstattung nahmen Aufarbeitung und Wiedergutmachung entsprechend verzögert ihren Lauf.

Lillan Støen
Lillan Støen ist Sekretärin von Taternes Landsforening, der grössten Dachorganisation norwegischer Romani. zur Verfügung gestellt

1986 entschuldigt sich der Schweizer Bundesrat Alphons Egli erstmals für die Beteiligung des Bundes an der Aktion «Kinder der Landstrasse». Die norwegische Regierung und Kirche entschuldigen sich 1998 erstmals für das von Romani erlittene Unrecht.

Beide Länder verabschieden daraufhin Massnahmen zur finanziellen Entschädigung: In der Schweiz bewilligt das Parlament 1988 und 1992 insgesamt 11 Millionen Franken zur individuellen Wiedergutmachung – maximal 20’000 Franken pro Person. Norwegen entscheidet sich 2004 für eine ähnliche Regelung. Allerdings erhält jede betroffene Person höchstens 20’000 Kronen – umgerechnet rund 1’600 Franken. Auch ein Projektförderungsfonds zur kollektiven Wiedergutmachung wurde eingerichtet, unter anderem finanziert dieser die Ausstellung Latjo Drom im Glomdals-Museum zur Geschichte und Kultur der Romani.

In Europa leben 12 Millionen Romn:ja – damit stellen diese die grösste Minderheit des Kontinents dar, geeint wird die äusserst heterogene Bevölkerungsgruppe von der gemeinsamen Sprache Romanes. Die allermeisten Rom:nja pflegen keine fahrende Lebensweise, sie wurden aber seit jeher von der Mehrheitsbevölkerung als fahrende Minderheit betrachtet. Dies ist ein Resultat ihrer Verfolgungsgeschichte. 

Als Sinti:zze bezeichnen sich jene Romn:ja, die seit Jahrhunderten in West- und Mitteleuropa leben. Insbesondere in Deutschland ist die Bezeichnung sehr geläufig. In Norwegen bezeichnen sich die dort ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert lebenden Romn:ja als Tater oder Romani, womit sie sich von denjenigen Romn:ja abgrenzen, die nach der Aufhebung der Sklaverei 1856 im Gebiet des heutigen Rumänien nach Norwegen kamen. 

Traveller und Jenische 

Die in Schottland und Irland lebenden Traveller bezeichnen sich selbst als Nawken respektive Mincéirí. Sie sind nicht mit der Bevölkerungsgruppe der Romn:ja verwandt und sprechen eine eigene Sprache, wurden von der Mehrheitsgesellschaft jedoch auch als «Fahrende» betrachtet und sind von denselben antiziganistischen Stereotypen und Diskriminierungen betroffen. 

Dasselbe gilt für die Jenischen, die in der Schweiz, aber auch in den Nachbarsländern Frankreich und Deutschland leben und eine eigene Sprache pflegen.

In beiden Ländern sind zudem mittlerweile umfassende historische Forschungsberichte veröffentlicht worden: In der Schweiz präsentierten 2007 drei Projekte ihre Ergebnisse, in Norwegen 2015 das explizit dafür gegründete Tater/Romani Komitee.

Es ist nicht so, dass diese Schritte reibungslos und ohne Kritik vonstattengegangen wären. So bemängeln einige Romani-Organisationen wie die Taternes Landsforening, dass die Projektförderung seit 2019 dem staatlichen Kulturrat unterstellt ist. Zuvor hatte die von Angehörigen der Minderheit geführte Cultural Fund Foundation die Mittel verteilt – bis die Regierung der Stiftung wegen Unregelmässigkeiten die Kontrolle entzog.

Die kürzliche Anerkennung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Schweiz verlief ebenfalls nicht ohne Misstöne. Eine bereits geplante Entschuldigung der Regierung wurde im Behördenprozess wieder gestrichen, wie die linke Wochenzeitung WOZExterner Link öffentlich gemacht hat.

Stattdessen beschränkte sich Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider auf eine Wiederholung der Entschuldigung von 2013, die allgemein an Betroffene Fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen gerichtet war. Dass damit keine spezifische Entschuldigung für die Verfolgung Jenischer und Sinti:zze formuliert wurde, führte unter einigen Betroffenen zu Unmut.

Schottland: Aufarbeitung steht noch am Anfang

In Schottland steht die historische Aufarbeitung der Kindswegnahmen – anders als in Norwegen und der Schweiz – noch ganz am Anfang.

Lesen Sie hier mehr über die Geschichte der antiziganistischen Kindswegnahmen in der Schweiz, Norwegen und Schottland:

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Erst in den letzten fünf Jahren begannen dort einzelne Betroffene von Kindswegnahmen und den «Tinker Experiments» eine offizielle Entschuldigung für dieses dunkle Kapitel zu fordern. In der Folge beauftragte die schottische Regierung 2023 die Universität von St. Andrews mit einem Forschungsprojekt zur historischen Aufarbeitung.

Dieses wurde aber nur mangelhaft finanziert – und für eine zweite ausgeschriebene Forschung, die die Erinnerungen von Betroffenen gesammelt und ausgewertet hätte, ist die Finanzierung gar wieder zurückgezogen worden. Das Forschungsteam kritisiert diese Entscheidung in ihrem Bericht: „Es ist wichtig, anzuerkennen, dass es heute noch lebende Opfer dieser Politik gibt, deren Geschichten gehört werden und die eine Art der Wiedergutmachung erhalten müssen.“

Dieser Ansicht ist auch Dr. Lynne Tammi-Connelly, eine der Traveller-Aktivist:innen, die sich in Schottland für die Aufarbeitung, eine Entschuldigung und finanzielle Wiedergutmachung einsetzt. «Was passiert ist, gehört nicht der Vergangenheit an, sondern lebt in der Gegenwart weiter», erklärt sie gegenüber SWI swissinfo.ch.

Für mediales Aufsehen sorgte die Aktivistin Ende Februar, als sie den noch unveröffentlichten Forschungsbericht eigenhändig ins Netz stellte. Diese Entscheidung begründet sie damit, dass der Bericht, obwohl eigentlich im September 2024 abgeschlossen, bislang von der Regierung zurückgehalten werde. Sie befürchtet, dass diese ihnen unliebsame Aspekte aus dem Bericht streichen könnte.

Gegenüber der TimesExterner Link erklärte eine schottische Abgeordnete im Februar, dass die Regierung mit den Forscher:innen zusammenarbeiten würde und sie sich «noch nicht auf eine finale Version geeinigt» hätten. Dies ist womöglich ein Hinweis auf ein eigentümliches Verständnis von unabhängiger Forschung bei der schottischen Regierung.

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Bedeutung für die Gegenwart

Ob die schottische Regierung das vergangene Unrecht je anerkennt und Massnahmen zur Wiedergutmachung ergreift, ist offen. Auch, wenn der Bericht da ist, könnte es noch eine Weile dauern – wie die Schweiz und Norwegen zeigen, handelt es sich dabei um langwierige Prozesse.

Diese sind wichtig, damit sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und die heutige Situation der Minderheiten besser zu begreifen. «Es geht hier nicht um eine Politik geht, die Jahrhunderte zurückliegt», betont Korunovska von der Roma Foundation for Europe. In der Erinnerung der Rom:nja seien die antiziganistischen Verbrechen bis heute sehr präsent.

Das ist auch für Jenische, Traveller und Romani nicht anders: Die Betroffenen von Kindswegnahmen, Zwangssterilisation und -assimilation müssen bis heute mit den Folgen leben. Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben, ebenso das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.

Korunovska sagt: «Die strukturelle und systematische Verfolgung und Diskriminierung von Romn:ja wie auch anderen Gruppen, die bis in die jüngste Zeit andauerte, müssen einer breiten Öffentlichkeit bewusst werden», so Korunovska. Erst so könne es auch im aktuellen Umgang mit diesen zu einem Umdenken und tiefgreifenden Veränderungen kommen.

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Editiert von Benjamin von Wyl

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