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Die Konfrontation mit der Spinnen-Angst

Zwei Frauen berühren Spinnenhülsen
Ester Unterfinger/swissinfo.ch

Angst vor Spinnen ist weitverbreitet. Obwohl Therapien schnelle Erfolge versprechen, gibt es in der Schweiz nur wenige Angebote. Zu Besuch im "Angstseminar" im Walter Zoo.

Vor den Fenstern spaziert ein Tiger. Drinnen sagt niemand etwas. Die sechs Teilnehmer:innen warten, bis es beginnt. Manche nesteln mit den Fingern, andere greifen sich an den Hals – alle wirken angespannt. Das liegt nicht am Tiger vor dem Fenster. Während den vier Stunden, in denen anfangs bereits das Wort “Spinne” sichtbare Reaktionen bei den Teilnehmer:innen auslöst und am Ende alle ihrer Angst begegnen, wird der Amurtiger Viktor, 180 Kilogramm, aber auch mal Thema. “Den Tiger mit seinen grossen Augen finden fast alle Menschen herzig”, sagt Elia Heule, einer von zwei Biologen des Walter Zoo im Seminarraum. Eine der Ursachen von Spinnenangst ist, dass sie keine Kulleraugen haben, keine Nase. Kein für Menschen lesbares Gesicht, in dem sie Emotionen zu erkennen glauben.

Zwei Teilnehmerinnen hören zu
Sichtlich angespannt hören die beiden Teilnehmerinnen dem Biologen Elia Heule zu. Ester Unterfinger/swissinfo.ch

Über 900 Spinnenarten leben in der Schweiz. Viele denken kaum an sie; andere sind fasziniert. Für die vielen Menschen, die an einer Spinnenphobie leiden, kann eine Spinne in der Badewanne oder der Waschküche den Tagesplan umstülpen. Die fünf Frauen und der eine Mann, die das Angstseminar, das die Universität Zürich und der Walter Zoo gemeinsam durchführen, gebucht haben, erzählen: Alle haben seit ihrer Kindheit Angst vor Spinnen. Alle fühlen sich eingeschränkt. Alleine zu wohnen, ist eine Herausforderung. Ist im Badezimmer eine Spinne, betreten manche es nicht mehr, gehen bei der Arbeit aufs Klo bis jemand das Tier entfernt hat. Sie verzichten auf Reisen nach Australien, Südamerika – oder nur schon auf eine Nacht im Biwakzelt. Zu gross die Angst, einer Spinne zu begegnen.

Kursleiterin Hannah Süss bittet alle, auch konkrete Ziele zu formulieren. Selbstbestimmung, Kontrolle, die Spinne entfernen können. Vielleicht überraschend ist, dass viele auch an die Spinnen denken: Sie wollen die Tiere nach draussen bringen können, statt mit dem Staubsauger zu töten. Süss macht Hoffnung. Diese Ziele seien realistisch. Sonst arbeitet sie als Oberpsychologin in den Psychiatrischen Universitätskliniken in Zürich. Gegenüber SWI swissinfo.ch sagt Süss: “In den Angstseminaren kann man innert Stunden Fortschritte miterleben. So schnelle Erfolge kenne ich im Alltag nicht.” Für sie ist es ein willkommener Ausgleich zu ihrem Alltag.

Kursleiterin
Hannah Süss erklärt die Herangehensweise an die Angst. Ester Unterfinger/swissinfo.ch

Für die Teilnehmer:innen ist es Konfrontation pur. Dass sie sich angemeldet hätten und heute Morgen aufgestanden und gekommen seien, sei aber die grösste Hürde gewesen, versichert ihnen Süss. Die Teilnehmer:innen sind aus der ganzen Deutschschweiz angefahren – manche hatten drei Stunden Anfahrt zum Zoo in den grünen Hügeln der Ostschweiz. Solche Gruppentherapien gibt es bloss Wenige. Vor den Spinnen kommt die Theorie: Süss führt aus, wie Vermeidung die Ausprägung von Phobien steigern kann. Wer in eine Konfrontation mit einer Spinne gerät, spürt eine wachsende Angst und geht davon aus, diese steige und steige. “Weil wir flüchten, kennt der Kopf nur den Anstieg.” Doch wer sich weiterhin der Spinne, dem Auslöser der Angst, aussetzt, werde erfahren, wie sie zurückgeht.

“Spinnen sind gute Insektenvernichter”, beginnt Biologe Fabian Klimmek seinen Part, “40 bis 50 Tonnen Insekten, auch potenziell schädliche, vertilgen Spinnen auf einem Hektar Wiese pro Jahr.” Von einer chilenischen Tarantel gewinnen Menschen einen Stoff, der Grundlage für ein Mittel gegen Herzversagen ist. Spinnen als nützliche Tiere, Spinnen als Nutztiere, aber auch Spinnen als Opfer: Es geht um Schlupfwespen, die ihre Eier in Spinnen legen. Wenn die Larven schlüpfen, ernähren sie sich von der chancenlosen Spinne. “In der Schweiz gibt es keine gefährlichen Spinnen”, versichert Klimmek, “Die Zähne der meisten Arten kommen nicht mal durch unsere Haut.”

Das Wissen scheint zu helfen. Ursina findet Winkelspinnen grauenhaft. Da Zitterspinnen Winkelspinnen fressen, werden ihr diese beinahe sympathisch. Als Fotos von Spinnen rumgegeben werden, hört man den Satz “Ich kenne das auch” häufig. Zwei Schwestern sind gemeinsam im Kurs; die anderen haben sich noch nie gesehen – doch jetzt entsteht Vertrautheit. Diese hat Bestand, als die Spinnenhäute in den Raum gebracht werden. Auf die Häute folgen tote Spinnen.

Das Gruppengefühl und der Mut der Einzelnen wächst. Klimmek fragt: “Sollen wir mal eine Lebendige anschauen?” “Ja, gern!”, antwortet Teilnehmer Tobias. Und das lehrt das Seminar so: Mit dem Plastikgefäss in einer Hand langsam, damit es keinen Luftzug gibt, in die Nähe der Spinne kommen. Das Gefäss über der Spinne senken, so dass sie nicht mehr rauskommt. Dann das Gefäss leicht anheben und langsam ein Stück Karton darunter schieben – die Spinne wird auf den Karton steigen und kann unbeschadet entfernt werden. Nachdem es die Kursleiter:innen vorgemacht haben, sagt Ursina: “Darf ich das mal probieren?” Es fällt ihr nicht in jedem Moment leicht. Psychologin Süss bekräftigt: “Merkst du, wie sehr du die Kontrolle über die Situation hast.” Ursina läuft mit der Spinne eine Runde durch den Raum. Draussen drehen die Tiger eine Runde, der Zoo schliesst bereits. Drinnen gibt es Applaus.

Frau trägt Spinne in Plastikbehälter
Ursina ist nun fähig eine Spinne selbstständig nach Draussen zu befördern. Ester Unterfinger/swissinfo.ch

Gerötete Augen, müde Blicke, erschöpft sind die Teilnehmer:innen. Die Erschöpfung rührt nicht nur von Angst und Ekel sondern auch vom Kichern. Das Lachen ermöglicht Spannungsabbau. Am Ende haben es alle geschafft. Keine Spinne ist zu Schaden gekommen.

Zuhause sollen sich die Teilnehmer:innen weiter in Konfrontation üben. Wer den Kurs ein zweites Mal besucht, zahlt nur den halben Preis. Nur Wenige, die sich ihrer Spinnenangst im Angstseminar gestellt haben, kommen zurück.

Im Theorieteil wurden Spinnenmythen aufgeklärt:

  1. Die Spinne in der Wanne: Sitzt eine Spinne in der Badewanne, ist sie nicht aus dem Abfluss gekrochen, sondern vom glatten Wannenrand abgerutscht und kommt nicht mehr raus. In den Abflussrohren leben keine Spinnen. Die meisten Arten würden innert Kürze ertrinken.
  2. Spinnen im Schlaf: Menschen essen im Schlaf keine Spinnen. Spinnen sind sensibel auf Wärme und Luftzüge. Sie vermeiden deshalb Kontakt mit Menschen, auch wenn diese schlafen.
  3. Die Spinne im Staubsauger: Spinnen sterben beim Einsaugen. Der Spinnenkörper ist nur deshalb im Staubsaugerbeutel nicht aufzufinden, weil er in viele Einzelteile zerberstet.
  4. Die Spinne wartet auf mich: Spinnen, die vor einem Menschen wegrennen, halten schon nach kurzer Strecke inne. Das tun sie nicht, weil sie den Menschen erwarten, sondern weil sie wegen ihrer passiven Form der Atmung Pausen einlegen müssen. Das Tier hat mehr Angst vor Ihnen, als Sie vor ihm.

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