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So steht es um die Ungleichheit in der Schweiz

Blick auf die Stadt Zug
Im kleinen Schweizer Kanton Zug verfügen die reichsten 10% über 46% des Einkommens, tragen aber fast 88% der Gesamtsteuer bei. Keystone / Urs Flueeler

Während sich die Kluft zwischen den Reichsten und den Ärmsten in vielen Ländern vergrössert hat, ist die Situation in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten stabil geblieben. Das geht aus kürzlich veröffentlichten Daten hervor. Doch während die Einkommensverteilung egalitärer ist als anderswo, ist das Vermögen stärker konzentriert.

Wie viel soziale Ungleichheit ist akzeptabel? Ab wann stellt sie ein Risiko für eine Gesellschaft dar? Diese Fragen sind seit langem Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten.

Die Antwort ist nicht eindeutig, da es sich um eine politische Frage handelt. Einige Forschende argumentieren, dass die Motivation und die Produktivität eines Landes leiden würden, wenn es keine Ungleichheiten gäbe (siehe Artikel unten).

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Demonstranten

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Ist die Schere zwischen Reich und Arm ein Problem?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Wir widmen dem Thema soziale Ungleichheit eine Serie. Da stellt sich zunächst die Frage: Warum sind wirtschaftliche Ungleichheiten ein Problem?

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Die linken Parteien in der Schweiz versuchen seit langem, Reiche stärker zu besteuern. Alle sind an der Urne gescheitert. Zuletzt lehnte das Stimmvolk im September 2021 die «99%-Initiative» ab. Diese hatte verlangt, dass Kapitaleinkommen (wie Zinsen oder Dividenden) höher besteuert werden sollten als Arbeitseinkommen.

Die Juso, die das Reformprojekt initiiert hatten, wollten «den Privilegien der Superreichen ein Ende setzen». Die Partei hatte argumentiert, dass der wahre Reichtum von den anderen 99% der Bevölkerung geschaffen werde.

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Um die Debatte mit Fakten zu untermauern, hat das Institut für schweizerische Wirtschaftspolitik (IWP) der Universität Luzern eine Datenbank veröffentlichtExterner Link, welche die Verteilung der Einkommen – Arbeits- und Kapitaleinkommen – in der Schweiz in den letzten 100 Jahren zeigt.

Diese Zahlen stellen zwar nur einen Teil des Reichtums dar, da sie das Vermögen nicht berücksichtigen (wir kommen später darauf zurück), aber sie liefern dennoch einige Erkenntnisse.

Die am 20. April veröffentlichte Swiss Inequality DatabaseExterner Link (SID) basiert auf den Daten der Steuerbehörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Diese interaktive Datenbank zeigt die Einkommensverteilung von 1917 bis 2018.

Die SID ist eine schweizerische Nachbildung der World Inequality DatabaseExterner Link (WID), einer weltweiten Datenbank, die von einem Team unter Leitung des französischen Ökonomen Thomas PikettyExterner Link erstellt wurde, einem anerkannten Experten für das Thema Ungleichheit. Der jährliche Bericht über globale Ungleichheiten wird aus der WID entnommen.

Bemerkenswerte Stabilität

Das IWP stellt zunächst fest, dass die Einkommensverteilung in der Schweiz während des letzten Jahrhunderts sehr stabil war. Vor Steuern verdienten die reichsten 10% der Schweizer Bevölkerung etwa ein Drittel des Gesamteinkommens.

Dieser Anteil hat sich seit den frühen 1930er-Jahren kaum verändert. Nach der Umverteilung durch den Staat sinkt dieser Anteil um einige Prozentpunkte auf 30%, ein ebenfalls sehr stabiler Wert.

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Melanie HänerExterner Link, Leiterin des Bereichs Sozialpolitik am IWP, hält es für bemerkenswert, dass die Schweiz heute nicht ungleicher ist als vor 100 Jahren, wenn man «die verschiedenen Ereignisse des letzten Jahrhunderts wie Wirtschaftskrisen und Kriege» berücksichtige.

Melanie Häner
Melanie Häner, Leiterin des Bereichs Sozialpolitik am IWP. IWP

In dieser Hinsicht sei die Schweiz im internationalen Vergleich eher eine Ausnahme, sagt die Volkswirtschafterin gegenüber swissinfo.ch.

Die Ende April erschienene Ausgabe 2022 des Berichts zur weltweiten UngleichheitExterner Link hebt hervor, dass seit den 1980er-Jahren «die Ungleichheiten in den meisten Ländern zugenommen haben».

«Dramatisch» sei dies in den USA, Russland oder Indien zu beobachten, etwas weniger ausgeprägt in Europa oder China. In den USA beispielsweise ist der Anteil der reichsten 10% am Einkommen vor Steuern von 34% im Jahr 1980 auf heute 46% gestiegen.

Arbeitsmarkt begrenzt Ungleichheiten

Die Schweiz gehört zu den westlichen Ländern mit den geringsten Einkommensunterschieden – auch innerhalb Europas, das jene Weltregion mit den geringsten Ungleichheiten in der Welt ist.

Dies gelte vor allem vor der Umverteilung, präzisiert Häner. Nach Steuern glätteten sich die Unterschiede zwischen der Schweiz und ihren Nachbarländern aus – die Umverteilung sei in der Schweiz etwas geringer, aber sie gehe von einem niedrigeren Niveau der Ungleichheit aus, analysiert die Ökonomin.

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Die Situation unterscheidet sich jedoch deutlich von Kanton zu Kanton, wobei die Einkommensunterschiede in den Kantonen Schwyz, Zug und Genf sehr ausgeprägt sind. Vor Steuern besitzen die reichsten 10% in jenen Kantonen 47, 46 bzw. 43% des Gesamteinkommens – im Vergleich zu 34% im Landesdurchschnitt.

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Die gute Gesundheit der Schweizer Wirtschaft trage stark dazu bei, die Einkommensungleichheit zu begrenzen, sagt Häner. «Die wichtigsten Faktoren sind zum einen der flexible Arbeitsmarkt – wir haben eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten der Welt – und zum anderen das duale Ausbildungssystem, das es Menschen ohne Hochschulbildung ermöglicht, bessere Einkommen zu erzielen.»

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Reiche leisten hohen Beitrag

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 zahlten die reichsten 10% der Schweiz fast 67% der gesamten Einkommenssteuern, um die frühen 1960er-Jahre herum waren es sogar über 70%.

«Zwischen den 1960er- und den 1980er-Jahren ist ein konsequenter Rückgang zu beobachten, der durch das starke Wirtschaftswachstum in dieser Zeit erklärbar ist», sagt Häner. Kurz gesagt: Mit dem allgemeinen Anstieg der Einkommen begannen immer mehr Haushalte, Steuern zu zahlen, oder sie stiegen in höhere Steuerklassen auf.

Dadurch sank der Anteil der Reichsten an den gesamten Steuereinnahmen. Heute liegt er bei etwa 51%. Ein Anteil, der immer noch «substanziell» ist und sich in den letzten vierzig Jahren kaum verändert habe, sagt Häner.

Die Forscherin ist der Ansicht, dass der Steuerwettbewerb zwischen den 26 Kantonen – jeder hat seinen eigenen Steuersatz – der Umverteilung nicht schadet, da die sehr progressive Bundessteuer die niedrigen Steuersätze in einigen Kantonen wie Schwyz oder Zug ausgleiche.

Sie «ziehen mit ihren niedrigen kantonalen Steuersätzen hohe Einkommen an, aber diese Personen zahlen dann die Bundessteuer zu einem sehr hohen Satz», sagt die Ökonomin. Der eidgenössische Einkommenssteuersatz beginnt bei 0,77% und steigt bis zu 11,5%Externer Link für die höchsten Einkommen.

Dadurch sind die reichsten Steuerzahlenden in diesen Kantonen sehr stark an den gesamten Steuereinnahmen beteiligt. In Zug erarbeiten die 10% Einkommensstärksten 46% der Einkommen, tragen aber fast 88% der Steuern bei. In Schwyz liegt die Beteiligung der Reichsten bei über 70%.

Hinzu kommt der Nationale FinanzausgleichExterner Link, das Solidaritätssystem, bei dem die wirtschaftlich stärkeren Kantone die schwächeren finanziell unterstützen. Zug und Schwyz sind genau jene Kantone, die am meisten zum Finanzausgleich beitragenExterner Link (in Höhe von 2600 bzw. knapp 1300 Franken pro Person).

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fountain in canton Jura

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Grössere Ungleichheiten beim Vermögen

Wie bereits erwähnt, sind Einkommen und Reichtum – gemessen am Vermögen – zwei verschiedene Dinge. Und die Personen mit dem höchsten Einkommen sind nicht unbedingt diejenigen mit dem höchsten Vermögen.

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Ist die Schweiz so egalitär, wenn man alle Elemente des Wohlstands betrachtet? Diese Frage versucht der folgende Artikel zu beantworten.

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Der Artikel zeigt einige Besonderheiten des schweizerischen Systems auf, die nicht zur sozialen Gleichheit beitragen. So ist zum Beispiel die Wohneigentums-Quote mit 40% die niedrigste in EuropaExterner Link. Der ständige Anstieg der Immobilienpreise führt dazu, den Reichtum mehr und mehr in den Händen der Immobilienbesitzenden zu konzentrieren.

Der Artikel nennt auch die Pauschalbesteuerung (ein spezielles Steuerregime, das auf ausländische Superreiche mit Wohnsitz in der Schweiz abzielt), die Steuerfreiheit von Gewinnen aus dem Verkauf von Aktien und die niedrige Erbschaftssteuer. Die Hälfte des Gesamtvermögens der Schweizer Bevölkerung stammt aus Erbschaften, die sehr ungleich verteilt sind.

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Laut der World Inequality Database besitzen die reichsten 10% der Schweiz 63% des Kapitals. Ein Prozentsatz, der seit 1995, als die letzten Daten verfügbar waren, um fast 6 Prozentpunkte gestiegen ist. In Westeuropa weist nur Irland einen höheren Prozentsatz auf (66%). Die «ärmere» Hälfte der Schweizer Bevölkerung besitzt nicht einmal 4% aller Vermögen.

Die Zunahme der Ungleichheit bei den Vermögen ist fast überall auf der Welt zu beobachten. «Die Zunahme des Privatvermögens verlief sowohl innerhalb der Länder als auch auf globaler Ebene ungleichmässig», heisst es im jüngsten Bericht zur globalen Ungleichheit.

Die Kapitalkonzentration ist in den USA sehr ausgeprägt, wo mehr als 70% des Gesamtvermögens den reichsten 10% gehören. Zwischen 1995 und 2020 ist dieser Anteil in China von 41% auf 68% und in Russland von 53% auf 74% gestiegen.

Die Ungleichheit der Vermögen in der Schweiz ist zwar stärker ausgeprägt als im europäischen Durchschnitt, im weltweiten Vergleich bleibt sie aber eher moderat.

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(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

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