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Was genau geschah am 11. September 2001?

Ein Feuerwehrmann vor dem Schreckensszenario von "Ground Zero". Reuters

Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war geprägt von den Konsequenzen des 11. Septembers 2001. Aber was weiss man wirklich über diesen schrecklichen Tag, und was ist noch immer unbekannt? Die Meinungen von Experten sind widersprüchlich.

Flug AA11 krachte in den Nordturm des World Trade Centers (WTC), Flug UA175 bohrte sich in den Südturm. Flug AA77 schlitze das Pentagon auf, Flug UA93 stürzte über Pennsylvania ab. Dann stürzten die Zwillingstürme des WTC ein. Schliesslich sank einige Stunden später das Gebäude WT7 in einer monströsen Rauchwolke in sich zusammen. Mehr als 3000 Menschen starben unter den Trümmermassen.

Das sind die Fakten von offizieller Seite. Aber was weiss man darüber hinaus über den 11. September 2011? Jacques Baud, Geheimdienstexperte bei der UNO, Daniele Ganser, Geschichtsprofessor an der Universität Basel, und der Journalist Xavier Colin von RTS (Radio Télévision Suisse), nehmen dazu Stellung.

“Nach dem zweiten Flugzeug – das machte es klar, dass es ein terroristischer Akt war – habe ich sofort an Al-Kaida gedacht. Ich arbeitete damals seit einigen Wochen an diesem Dossier”, sagt Xavier Colin, der an diesem Tag bis spät in die Nacht vor dem Fernseher verharrte. “Niemand rechnete damals mit Anschlägen von dieser Tragweite und schon gar nicht auf amerikanischem Boden.”

Auch für Jacques Baud waren die Anschläge nicht voraussehbar. “Wer behauptet, man habe es vorausgesagt, hat überhaupt nichts vorausgesehen. Es gab Vermutungen, Hypothesen. Aber das reicht nicht aus. Ich war vor 30 Jahren im Geheimdienst tätig, und schon damals wurde die Frage aufgeworfen, ob ein Flugzeug auf ein Atomkraftwerk oder das Pentagon stürzen könnte. Für den Geheimdienst sind aber nur präzise Informationen von Nutzen.”

Zustimmen oder untersuchen?

Der “Schlussbericht der nationalen Kommission über die terroristischen Anschläge gegen die USA” wurde am 22. Juli 2004 publiziert. Die Verbreitung abweichender Theorien – weniger in den Medien, aber im Internet und in Verlagen – hat aber nicht aufgehört.

Jacques Baud hält nichts davon: “Diese Theorien wuchern in den USA: Zwischen Ausserirdischen und Kreationisten gibt es eine Fülle von Bereichen, in denen Menschen versuchen, die Polemik anzuheizen. Ich glaube nicht, dass diese Theorien wirklich Hand und Fuss haben.”

Xavier Colin verharrt auf seiner Position als Journalist. Er verlässt sich nur auf Fakten: “Die Verschwörer haben Antworten auf all ihre Fragen. Für uns Journalisten hat die amtliche Untersuchung leider keine neuen Erkenntnisse offenbart”, sagt er.

Aber spielen nicht die Medien eine eigene Rolle bei der Untersuchung? “Zuerst gab es tatsächlich eine gewisse Gleichschaltung der Presse, in Bezug auf das, was die Behörden sagten. In einer zweiten Phase kam in der amerikanischen Presse der echte Wunsch auf zu untersuchen. Aber kein Medium konnte, trotz der eingeleiteten Untersuchungen, neue Elemente präsentieren. Wirklich keines.”

Der Historiker Daniele Ganser vertritt eine ganz andere Position. Er hat ein Kapitel zum Buch “911 and the American Empire” beigesteuert: Es ist die akademische Meinungsäusserung von David Ray Griffin, einem ehemaligen US-Professor für Religion und Theologie, einem der lautesten Kritiker der offiziellen Version zum 11. September 2001.

Seine Kontakte zu Schülern und Eltern zeigen ihm, dass sich die Generationen Informationen aus unterschiedlichen Quellen beschaffen: “Eltern, die sich via Zeitungen und Fernsehen informieren, sehen nur einen Schuldigen: Bin Laden. Die Kinder informieren sich übers Internet und sind überzeugt, dass Bush das entweder geschehen liess oder dass er selbst hinter allem steckt. Ich bin der Ansicht, die Universität ist dafür verantwortlich, dass die beiden Positionen sich gegenseitig austauschen. Sie muss die Gemüter beruhigen und versuchen, über die drei Theorien zu reflektieren , die uns einen Diskussionsraum eröffnen.”

Drei Theorien? Da ist die offizielle Version (es handelte sich um ein Komplott, und die Amerikaner wurden total überrascht), dann die Theorie LIHOP “Let It Happen On Purpose (Laisser faire-Vorsatz) und die Theorie MIHOP für “Make It On Purpose (absichtliche Auslösung).

Lügen des Staates

Wurden wir seit dem 11. September 2001 nicht immer wieder bestätigt, dass die offiziellen Lügen nicht bloss Fantasien von Verschwörungstheoretikern oder Filmemachern sind? Was ist mit den Massenvernichtungswaffen in Irak? Gab es nicht! Und die unterirdischen High-Tech-Bunker von Bin Laden in Afghanistan? Das waren einfache Höhlen! Sind solche Lügen nicht die Nahrung von Verschwörungstheorien?

Für Daniele Ganser ist die Sache klar. Für Xavier Colin liegt die Nuance zwischen den “Lügen des Staates” und einem “Komplott des Staates”. “Noch einmal: Für ein Staatskomplott warte ich noch auf die Beweise. Lügen des Staates, die hat es gegeben, ja. Rumsfelds Ankündigung, der Irak-Krieg werde kurz sein und er werde ein oder zwei Milliarden kosten, war eine Lüge des Staates. Wenn wir die Kosten der Kriege in Afghanistan und Irak zusammenrechnen, sind wir heute auf rund 1350 Mrd. Euro. Ein schöne Lüge!”

Jacques Bauds Antwort glaubt nicht daran, weil seiner Ansicht nach die Verschwörungstheorien bereits früher geäussert worden waren. “Zwei Wochen nach den Anschlägen war ich auf einer Konferenz in Paris. Ich traf dort Geheimdienstleute, und bereits damals hat man mir das gesamte Spektrum der Verschwörungstheorien präsentiert.”

Und zu den Lügen mit den Massenvernichtungswaffen meint er, die Bunker-Affäre sei eine Hypothese, die man auf die Realität übertragen hätte, ein Bild das man kreiert hätte, ein wenig wie ein Wunsch, der wahr werden sollte. Wer sich daran erinnert, wie Donald Rumsfeld die Bunkerpläne im Fernsehen präsentierte, soll selbst darüber urteilen. 

Eine Definition…

Zehn Jahre sind nun vergangen. 10 Jahre der Fragen. Wenn unsere Experten die Geschehnisse des 11. Septembers 2001 einem Kind erklären müssten, was würden sie sagen?

Jacques Baud: “Das war eine Gruppe von Menschen, die sich gegen die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten stellen wollten. Das ist auch der Sinn des Wortes ‘Jihad’, das nicht etwa ‘Krieg’ bedeutet, sondern ‘entschlossen Widerstand leisten’. Und das führt zum Rest: Je mehr die Amerikaner versuchten, ihre Macht zu zeigen, umso mehr hat sich der Widerstand dagegen erhöht. Das haben wir in Afghanistan und Irak gesehen. Widerstand gibt es nur, wenn er sich gegen eine Kraft wendet. Wenn man mit der Gewalt aufhört, macht auch der Widerstand keinen Sinn mehr.”

Xavier Colin: “Es war der leider erfolgreiche Versuch einer Handvoll islamischer Extremisten, die glaubten, dass sie mit einem Angriff in dieser Grössenordnung einen Teil der Welt gegen den anderen ausspielen könnten. Sie hatten Erfolg mit der Schwere ihres Attentats, mit dem Schock, den sie provozierten und mit dem Zögern, das sie verursachten. Sie hatten aber keinen Erfolg damit, einen Teil der Welt gegen den anderen auszuspielen und hatten auch keinen Einfluss auf Zivilisation oder Religion.”

Daniele Ganser: “Es war ein Ereignis, das 3000 Menschen getötet hat, das eine Menge Ängste erzeugt hat, das die Muslime diskreditiert hat und das der Vorwand war, Kriege in Afghanistan und Irak zu beginnen. Darüber hinaus hat die Nato zu ersten Mal Artikel 5 angewendet, das bedeutet, dass die 28 Nato-Staaten gemeinsam in den Krieg ziehen. Nach zehn Jahren wissen wir immer noch nicht genau, was am 11. September geschah, was der Ursprung aller nachfolgenden Geschehnisse war. Deshalb braucht es weitere Ermittlungen.”

In New York, auf dem “Ground Zero”, wie der Bereich nach den Anschlägen umbenannt wurde, wird ein “Freedom Tower” entstehen. Ein Glasturm, der Transparenz symbolisieren soll – das genaue Gegenteil des dunklen Strudels vom 11. September 2001.

Insider-Delikte an der Börse am Vorabend des 11. September 2001, Absturz auf das Pentagon, Einsturz des WT7, wenige Spuren zum Absturz des Fluges UA93 in Pennsylvania: Die Lügenvorwürfe sind zahlreich. Sind unsere Experten über gewisse Fakten beunruhigt?

Xavier Colon: “Es gibt eine Menge Fragen ohne Antworten. Ich zweifle nicht daran, dass ein Flugzeug auf das Pentagon abgestürzt ist. Aber wie jedermann frage ich mich, wieso man auf den Fotos keine Schäden sieht. Aber im Moment kann man nicht mehr dazu sagen. Eine andere Frage: Warum wurde eine derart auffallende Gruppe von Terroristen nicht aufgespürt? Keine Antwort.”

Daniele Ganser: “Der WT7 irritiert mich am meisten. Der WT7 war 170 Meter hoch und stürzte in Sekunden ein. Eine solche Tatsache kann man nicht einfach wegwischen und sagen, das sei ein Detail. Und viele Leute wissen gar nicht, dass am selben Tag ein drittes Gebäude eingestürzt ist. Es gibt zwei Lesarten: ein Brand oder eine kontrollierte Zerstörung. Wir müssen mehr wissen darüber.”

Jacques Baud: “Es gibt Details, die beunruhigend bleiben. Der Fall des WT7 zum Beispiel ist irritierend. Aber man sieht, dass viele Phänomene erklärbar sind und die Aussagen, welche diese Erklärungen in Frage stellen, von Zeugen gemacht wurden, die sehr vom Stress des Moments abhängig waren. So ist man schliesslich dennoch gezwungen, die offiziellen Erklärungen zur Kenntnis zu nehmen.”

Jacques F. Baud ist zur Zeit Chef des Dienstes “Politik und Doktrin” des UNO-Departementes für friedenserhaltende Operationen. Er hatte für diese Abteilung schon zahlreiche Missionen auf dem Feld ausgeführt. Als Oberst der Schweizer Armee arbeitete Baud von 1983 bis 1990 für die Schweizer Geheimdienste. Er hat mehrere Werke über Welt der Geheimdienste und des Terrorismus verfasst.

Xavier Colin ist zur Zeit Produzent der Sendung “Geopolitis” des französischsprachigen Schweizer Fernsehens (TSR), wo er seit 1987 arbeitet. Für TSR war er namentlich Gerichtschronist, Korrespondent, Reporter, Sendeleiter und Chef der Rubrik International. Vorher hatte er während 13 Jahren für das französische Radio Europe 1 gearbeitet.

Doktortitel in Geschichte und Experte für Friedensforschung (‘peace research’). Daniel Ganser ist Dozent an der Universität Basel. Autor des Werkes “Die Geheimarmeen der Nato” (bei ‘stay behind’).

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler, Etienne Strebel)

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