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Was tamilische und singhalesische Politiker aus der Schweiz für Sri Lankas Zukunft mitnehmen

Polizist in Colombo läuft über Strasse.
Vor den Präsidentschaftswahlen 2024 hat dieser Polizist Wahlmaterial in einem Verteilzentrum in Colombo abgeholt. Copyright 2024 The Associated Press. All Rights Reserved.

Seit Jahrzehnten werden föderalistische Staaten von der tamilischen Minderheit immer wieder als Vorbild herangezogen. Diesen Herbst besuchte eine sri-lankische Delegation die Schweiz für eine Bildungsreise, wo der Schweizer Föderalismus ein Schwerpunkt war. Wird Sri Lankas Linksregierung nun die Machtteilung voranbringen?

Es sei faszinierend, wie in der Schweiz alles von unten nach oben organisiert sei, sagt Chandima Hettiaratchi. «Bei Entscheiden fragt man die Bevölkerung», schildert er. «Wenn ein Gemeinderat eine Strasse bauen will, und die Leute wollen das nicht, wird sie nicht gebaut – das Mandat geht von der Bevölkerung aus.»

Chandima Hettiaratchi
Der NPP-Parlamentarier Chandima Hettiaratchi reiste im September in die Schweiz. Es war sein erster Besuch im Land. Gleichzeitig ist Hettiaratchi auch Sekretär der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Sri Lanka. Facebook

Hettiaratchi ist einer von zwölf Politiker:innen aus Sri Lanka, die im September in der Schweiz zu Besuch waren. Ein Schwerpunkt der vom Schweizer Aussenministerium mitorganisierten Reise durch Genf, Bern und kleinere Gemeinden wie Murten war der Schweizer Föderalismus und das Zusammenspiel der politischen Ebenen in der Schweiz. 

In Sri Lanka gehen viele Entscheide von der Hauptstadt Colombo aus. Während Vertretende der tamilischen Minderheit ein föderales System fordern, gilt er vielen Angehörigen der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit als spaltend.

Konflikt zwischen Tamil:innen und Singhales:innen

Die Geschichte von Sri Lanka ist von ethnischen Konflikten geprägt, die in die britische Kolonialzeit zurückreichen. Im kolonialen Ceylon setzte Grossbritannien bevorzugt Mitglieder der tamilischen Minderheit in Verantwortungspositionen, was für Konflikte mit der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit sorgte.

Nach der Unabhängigkeit von 1948 verabschiedete die singhalesische Regierung ein Gesetz, das hunderttausenden Tamil:innen mit indischer Herkunft das Bürgerrecht verwehrte. Bald wurde Singhalesisch zur einzigen Nationalsprache erklärt. Standen unter britischer Kolonialherrschaft einige Vertreter der singhalesischen Mehrheit Externer Link für ein föderales System ein, war es nun das Anliegen der Tamilenvertreter.

Der Konflikt zwischen den mehrheitlich hinduistischen Tamil:innen und den mehrheitlich buddhistischen Singhales:innen mündete im Bürgerkrieg von 1983 bis 2009 mit über 100’000 Toten. Die Rebellengruppe Tamil Tigers kämpfte gegen die singhalesische Zentralregierung für einen unabhängigen Staat im Norden und Osten der Insel. Der Krieg endete erst mit dem kompletten militärischen Sieg über die Tamil Tigers.

Diskussion über das Schweizer Modell schon 1985 in Sri Lanka

Als Versöhnungsansatz wurde das föderalistische Modell der Schweiz immer wieder herangezogen. Zum Beispiel gab es 1985 eine Föderalismus-Konferenz des Marga-InstitutsExterner Link in Colombo, wo eine Schweizer Parlamentarierin und Beamte sprachen. «Das Seminar wurde von allen Beteiligten als grosser Erfolg bezeichnet», schrieb damals die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) – obwohl die Regierung die Veranstaltung nur im geschlossenen Kreis ohne lokale Berichterstattung erlaubt habe.

Im Mai 2002 kam der Politchef der Tamil Tigers während eines von Norwegen vermittelten Waffenstillstands klandestin nach Bern und warb dort nicht mehr für einen eigenen tamilischen Staat, sondern für «Föderalismus und Machtteilung zwischen dem Zentrum und den Regionen». So schilderte es damals die Weltwoche.

Im Herbst 2002 traf sich das Schweizer Aussenministerium offiziell mit Vertretenden der Tamil Tigers. Als sich in Norwegen eine – vermeintlich tragfähige – Einigung abzeichnete, empfing Aussenministerin Micheline Calmy-Rey im September 2003 sri-lankische Regierungs- und tamilische Rebellenvertretende zu einer Tagung. Calmy-Rey betonte gemäss AP, dass ein «Teil unserer eigenen politischen Identität» auch «in Sri Lanka einfliessen» solle, warnte aber davor, den Schweizer Föderalismus als Allheilmittel zu betrachten.

Der damalige Friedensprozess scheiterte. Der Krieg dauerte an bis 2009. Bis 2024 dominierten immer wieder Vertreter der Familie Rajapaksa die Politik von Sri Lanka, die eine anti-föderale Position vertraten.

Neue Linksregierung NPP verspricht Politik ohne Rassismus

2024 erlangte das linke Bündnis NPP (Nationale Volksmacht) eine grosse Mehrheit bei den Wahlen. Weit über 100 neue Politiker:innen kamen für sie neu ins Parlament.

Unter anderem Hettiaratchi. Er sagt: «Fast alle vorherigen Regierungen bauten ihre Politik auf Rassismus auf.» Sie seien entgegen diesen Ideen an die Macht gekommen – und hätten im ganzen Land Mehrheiten erlangt. «Wir werden ein vereintes Land schaffen, in dem alle ihre Kultur, Sprache und Unterschiede erhalten.»

Tatsächlich hat die NPP 8 der 19 Sitze im Norden und Osten des Landes inne – also keine Mehrheit.

Nihal Abeysinghe
Nihal Abeysinghe ist Parlamentarier und Generalsekretär des Parteienbündnis NPP in Sri Lanka. zVg

Gleichzeitig ist die JVP ein Faktor in der NPP. Diese hat ihre Wurzeln in einer singhalesisch-nationalistischen Linksguerilla hat. Als eine chinesische Delegation 2024 Sri Lanka kurz nach den Wahlen besuchte, versicherten sich JVP und Kommunistische Partei Chinas ihre «lange politische FreundschaftExterner Link». Diese China-Delegation traf sich auch mit NPP-Generalsekretär Nihal Abeysinghe.

Abeysinghe war auch auf der Reise in der Schweiz dabei. Er schätze die «nonkonfrontative Natur» des Schweizer Systems, selbst wenn er sich der Langsamkeit als Nachteil bewusst sei. Mehr Konsensorientierung möchte er auch in Sri Lanka. «Was wir in Sri Lanka fördern müssen, ist das Zusammenleben in einer multilingualen Gesellschaft, wo man auch die Sprache der Anderen lernt», so Abeysinghe.

Sein NPP-Kollege Hettiaratchi spricht über neu eingeführte «Partizipationsideen» in seiner Region. Nächstes Jahr, verspricht er, «sobald die Fragen der Grenzziehung geklärt sind», werde man «den Prozess der Durchführung von Provinzwahlen» in ganz Sri Lanka aufnehmen. Die letzten Wahlen auf dieser Ebene waren vor über 10 Jahren.

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Hettiaratchi möchte «die Leute nach und nach zur Partizipation führen». Bis man in einem «grossen öffentlichen Diskurs unter Einbezug von NGOs, Kirchen, Moscheen und Tempel» eine neue Verfassung entwickelt, so Hettiaratchi.

Tamilen-Vertreter fordern föderale Verfassung

Pathmanathan Sathiyalingham möchte ebenfalls eine neue Verfassung. Der tamilische Arzt, der während des Krieges in der Konfliktregion gearbeitet hatte, sitzt für die ITAK im Parlament, momentan die grösste tamilische Partei. Er war einer von drei oppositionellen tamilischen Politikern auf der Schweiz-Reise.

Pathmanathan Sathiyalingam
Pathmanathan Sathiyalingam sitzt für die tamilische Partei ITAK im srilankischen Parlament und wünscht sich eine föderale Verfassung. zVg

Sathiyalingham schätzte es, den Schweizer Föderalismus in der Praxis zu sehen. «Gemeinden haben ihre eigene Polizei. In Sri Lanka erhielten die Provinzen nie die Hoheit über die lokale Polizei», schildert er. Die Befugnisse der Provinzverwaltungen können mit der sri-lankischen Verfassung jederzeit entzogen werden. «Das ist schon mehrfach passiert.»

Für eine föderale Verfassung, die sich Sathiyalingham wünscht, müsse erst Vertrauen aufgebaut werden in der sri-lankischen Bevölkerung – und zwischen den Volksgruppen. «Diejenigen, die in der Schweiz waren, haben erlebt, dass Föderalismus nicht Spaltung bedeutet», sagt er. Bei abendlichen Gesprächen hätten sie zusammen föderale Systeme verglichen. «’Vergesst nicht, was ihr gelernt habt, wenn ihr die Schweiz verlasst’, habe ich ihnen dann auch gesagt», so Sathiyalingham.

Er findet, die NPP-Vertreter:innen auf der Schweiz-Reise seien in der Pflicht, die anderen in ihrem Parteienbündnis und die Bevölkerung über die Wirkweise von föderalistischen Systemen aufzuklären. «Bisher glauben die Singhalesinnen und Singhalesen, dass Föderalismus das Land spaltet.» Damit die Reise eine nachhaltige Wirkung habe, bat Sathiyalingham, dass «die Schweizer Vertretenden und die Botschaft in Sri Lanka den Dialog fortsetzen».

Gajendrakumar Ponnambalam war diesen Herbst nicht zum ersten Mal in der Schweiz. Bereits Anfang der 2000er-Jahre nahm der tamilische Politiker an einer ähnlichen Reise teil – und bringt seither föderalistische Modelle für Sri Lanka ins Spiel, zum Beispiel auch das von Kanada. «Das Schweizer Modell ist nichts neues für mich. Es macht meine Partei und mich schon lange ziemlich enthusiastisch», sagt der einzige Parlamentarier des All Ceylon Tamil Congress. Ponnambalam hat eine Übersicht über verschiedene Föderalismusmodelle. «Wir nehmen uns das Subsidiaritätsprinzip und die Machtteilung in der Schweiz zu Herzen, aber schätzen die kanadische Idee, wo Quebec als Nation anerkannt ist. Wir möchten einen plurinationalen Staat», führt er aus.

Für Schweizer Aussenministerium ein Erfolg

Doch auch Ponnambalam betont den schlechten Ruf, den Föderalismus unter Singhales:innen habe. Anders als frühere Regierungen sage diese, dass sie keine «anti-tamilische Absichten» habe. «Die NPP anerkennt, dass alle früheren Regierungen der letzten 76 Jahre antitamilische Agendas vertraten und dass darum antitamilische Gesetze existieren», sagt er. Ob sich etwas ändert, müsse sich zeigen. In Gesetzen, aber auch dahingehend, ob die Regierung der singhalesischen Bevölkerung vermittelt, dass «Föderalismus nicht Abspaltung» sei. Das sei Aufgabe der Regierung. Ihm als tamilischem Politiker glaube das die singhalesische Bevölkerung nicht.

Das Schweizer Aussenministerium teilt mit, die Reise sei «erfolgreich und wirkungsvoll» gewesen und habe beim Aufbau von «gegenseitigem Verständnis über Parteigrenzen hinweg» geholfen. Die Schweiz werde die nationale Versöhnung weiterhin unterstützen.

Editiert von David Eugster

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