In Genf wächst der Unmut über die geplanten UNO-Reformen

Die UNO befindet sich in einer schweren Finanzkrise. Generalsekretär Antonio Guterres will die Organisation grundlegend umstrukturieren. Die geplante Verlagerung von Arbeitsplätzen und die Zusammenlegung von Agenturen beunruhigen die Angestellten. Kann Genf seinen Platz in der Weltordnungspolitik behalten?
Am Donnerstag, 1. Mai, scheint die Sonne über den Place des Nations in Genf. In der Menge, die sich vor dem europäischen Sitz der Vereinten Nationen versammelt hat, sind die Gesichter aber düster. Anlässlich des Tags der Arbeit sind etwa 500 UNO-Beamt:innen dem Aufruf der Gewerkschaften zu einer Demonstration gefolgt, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat.
«Die Stimmung am Arbeitsplatz ist sehr belastend. Es herrscht grosse Angst», sagt ein langjähriger Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), der anonym bleiben möchte. Er befürchtet, er könnte bald seinen Job verlieren.
«Das Personal der Vereinten Nationen ist keine Ware», steht auf den Schildern, die internationale Beamt:innen hochhalten. Sie protestieren gegen laufende und künftige Entlassungswellen, während die Vereinten Nationen mit ernsthaften Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
Die Organisation befindet sich in einer Finanzkrise, da viele Mitgliedstaaten mit ihren Zahlungen im Rückstand sind und die Beiträge ihrer Hauptgeldgeber, insbesondere der USA und mehrerer europäischer Länder, darunter Grossbritannien, gesunken sind.
Um alles über die Tätigkeitsbereiche, die Arbeitsplätze und die wirtschaftlichen Auswirkungen des internationalen Genf zu erfahren, lesen Sie unseren Artikel zu diesem Thema:

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Geplante Reformen
Angesichts dieser Situation startete UNO-Generalsekretär Antonio Guterres im März einen Reformplan mit dem Namen «UN80», der die Vereinten Nationen vor allem durch Ausgabenkürzungen effizienter machen soll.
«Die IAO hat bereits jede zehnte Stelle gestrichen», bedauert ein Mitarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), der auf dem Platz der Nationen anwesend ist, und verweist auf die Nichtverlängerung von Projekten, die von den USA finanziert werden.
Nach Angaben der Gewerkschaften sind Tausende von Arbeitsplätzen innerhalb des UN-Systems gefährdet. Für das UNHCR, das zu 40% von der Finanzierung durch die USA abhängig ist, könnte der Stellenabbau 30% seiner weltweiten Arbeitskraft ausmachen, die 2021 18’000 Personen betrug.
Am 12. Mai berichtete der Generalsekretär vor den Mitgliedstaaten über den Stand der Dinge und einige der in Betracht gezogenen Ideen, wie die Zusammenlegung von Einheiten innerhalb seines Sekretariats und die Verlagerung von Stellen, die heute in New York und Genf – den beiden teuersten UNO-Polen – besetzt sind, in erschwinglichere Städte.
«Wir wissen, dass einige dieser Veränderungen für unsere UNO-Familie schmerzhaft sein werden», räumte Guterres ein und forderte die Mitgliedstaaten auf, Mut zu zeigen. Denn jede grössere Umstrukturierung bedarf der Zustimmung der Generalversammlung.
Diese jüngsten Informationen bestätigen einige der Vorschläge, die in den letzten Tagen an die Presse durchgesickert sind. Dabei war von einer Zusammenlegung der Organisation in vier grosse Abteilungen die Rede sowie von einer Fusion von Agenturen mit ähnlichem Mandat – wie dem UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die beide ihren Sitz in Genf haben.

«Mangel an Visionen»
«Es gibt einige ehrgeizige Vorschläge», analysiert Prof. Achim Wennmann, Direktor für strategische Partnerschaften am Geneva Graduate Institute. Insgesamt liegt der Schwerpunkt jedoch eindeutig auf Kostensenkung und Effizienz. Es fehlt an einer Vision, wie diese Reformen die Vereinten Nationen auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten werden».
Die angesprochenen Vorschläge gehen beispielsweise nicht auf die Frage ein, wie die Vereinten Nationen die Herausforderungen im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz oder der Governance des Cyberspace besser angehen könnten.
«Der Schwerpunkt liegt auf einer Verlagerung ausserhalb von New York und Genf», sagt Wennmann. Seiner Meinung nach könnten einige Länder wie China, die Golfstaaten, Brasilien, Frankreich oder Deutschland dies als «Einladung sehen, sich unter den Teilen von Organisationen jene herauszupicken, die sie gerne bei sich aufnehmen würden».

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Das Internationale Genf
Ein EU-Diplomat sagte auf Anfrage, er habe «nicht den Eindruck, dass viele Staaten aktiv versuchen, die Agenturen, die sich heute in Genf befinden, zu sich nach Hause zu holen». Seiner Meinung nach sind die UNO-Organisationen dort angesiedelt, weil sie Teil eines «Ökosystems» sein wollen. Dennoch müsse man darüber nachdenken, Backoffice-Funktionen, die auch an günstigeren Standorten erledigt werden könnten, zu verlagern, fügt er hinzu. Dazu zählten etwa Finanzen, IT oder Personalwesen.
Auf Seiten des Personals klingt dieses Argument nicht überzeugend. «Andere Agenturen haben in der Vergangenheit ausgelagert – das funktioniert nicht», sagt eine andere IAO-Mitarbeiterin. Denn die verlagerten Stellen müssen in einer nahen Zeitzone liegen, die neuen Mitarbeiter müssen Sprachkenntnisse haben, geschult werden und die Entlassenen entschädigt werden. «Wenn man das alles zusammenrechnet, weiss ich nicht, ob da auch nur ein Cent eingespart wird», sagt sie.
Welche Zukunft hat der Standort Genf?
Einige Beobachter:innen meinen, die Initiative des Generalsekretärs sei nicht nur eine blosse wirtschaftliche Übung, sondern auch eine Möglichkeit, das Image der Vereinten Nationen von dem der westlichen Metropolen New York und Genf zu lösen und stattdessen andere Ziele, zum Beispiel Nairobi in Kenia zu wählen.
Das internationale Genf ist jedoch ein Prestigefaktor und hat wichtige wirtschaftliche Auswirkungen für die Region und die Schweiz im weiteren Sinne, die durch eine Schwächung dieses Standorts viel zu verlieren haben.

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Das internationale Genf in Zahlen
Auf Anfrage teilt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) mit, es begrüsse die Bemühungen, die Vereinten Nationen effizienter zu gestalten. Gleichzeitig betont es, dass mögliche Verlagerungen von Arbeitsplätzen dazu beitragen sollten, die Wirkung der internationalen Organisationen zu stärken – und nicht allein einer Logik kurzfristiger Einsparungen folgen dürften. Weiter hält das EDA fest, es gelte, eine kontraproduktive Zersplitterung der Sitze internationaler Organisationen sowie die Entstehung von Doppelstrukturen zu vermeiden.
Die Schweizer Regierung hat Anfang Mai angekündigtExterner Link, für das Jahr 2025 insgesamt 35 Millionen Franken an den Kinderhilfsfonds der Vereinten Nationen (UNICEF), UN Women sowie den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) zu leisten. Mit der Erneuerung dieser Beiträge wolle sie ein «starkes Signal zugunsten des internationalen Genfs» senden, dessen Organisationen «mit einer instabilen geopolitischen Lage und wiederkehrenden Krisen zu kämpfen haben».
Mit einer umfangreichen Infrastruktur, darunter der Palais des Nations, der derzeit renoviert wird, der diplomatischen Präsenz von 183 der 193 Mitgliedstaaten, einem grossen Pool an NGOs, Universitäten und Privatunternehmen bietet Genf zahlreiche Vorteile für die Vereinten Nationen.
«Ich sehe nicht, dass Genf seine Rolle als Drehscheibe der globalen Governance so bald verlieren wird», sagt Achim Wennmann. Die dort behandelten Themen betreffen globale Anliegen – seien es humanitäre, gesundheitliche, friedensbezogene oder klimatische Fragen. Die Stärke Genfs liege in der enormen Konzentration von technischer Expertise und Fachwissen, die einzigartig sei und sich von New York unterscheide, wo die Diskussionen stärker politisch geprägt sind.
Editiert von Virginie Mangin/sj, Übertragung aus dem Französischen mit der Hilfe von Deepl: Janine Gloor
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