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Ohne Gesetz, ohne Zahlen: Wie Homophobie bekämpfen?

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Die Schweiz verfügt weder über eine spezifische Gesetzgebung zur Bekämpfung der Homophobie noch über offizielle Fallzahlen auf nationaler Ebene. Keystone

Es ist kein Einzelfall in der Schweiz: Kürzlich machte ein homophober Übergriff, gefilmt in einem Tram in Genf, in den Sozialen Medien von sich reden. Solche Vorfälle gelte es statistisch zu erfassen, fordern Organisationen, die sich für Homosexuelle einsetzen. Auch brauche die Schweiz endlich ein Gesetz zur Bekämpfung von Homophobie.

Drängelei in einem Genfer Tram. Ein Mann beschimpft einen Passagier: “Mach schon, zieh Leine (…) du wolltest mich anbaggern (…) ich ficke keine Schwuchteln”, sagt er. Der Beschimpfte heisst Jordan Davis und arbeitet für das Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS). Er lässt sich nicht aus der Fassung bringen, nimmt sein Handy und filmt die Szene (siehe Video unten). “Wir sind hier in der Schweiz. Ich bin homosexuell und stolz darauf. Ich bin Ihnen ebenbürtig”, sagt er.

Doch die Beleidigungen gehen weiter. Mitfahrende verteidigen den angegriffenen Jordan Davis. Sie zwingen den Aggressor zum Aussteigen. Da steht er nun an einem Dezemberabend an einer Haltestelle im Regen.

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Verärgert über das, was er gerade erlebt hat, teilt der Journalist das Video auf den sozialen Netzwerken. Angesichts der Reaktions-Flut zieht er das Video einen Tag später aber wieder zurück. “Ich habe viel Unterstützung erhalten, wurde aber auch bedroht”, sagt er.

Einige warfen Jordan Davis vor, er habe nicht berücksichtigt, dass der Aggressor offenbar aus einem problematischen Umfeld komme. “Ich hatte keine Zeit für eine soziologische Analyse dieses Herrn. Offenbar war er betrunken, aber mehr weiss ich nicht über ihn.”

“Wer nichts sagt, stimmt zu”

Jordan Davis’ Absicht war es, eine einfache Botschaft zu übermitteln: Ein solches Verhalten ist in der heutigen Zeit in der Schweiz nicht akzeptabel. Ganz allgemein: Homophobie ist unzulässig. “Ich fühlte mich machtlos. Nicht einzugreifen hätte bedeutet, eine Art Schande über mich ergehen zu lassen oder den Weg zu ändern, um nach Hause zu gehen. So hätten die Menschen aber denken können, dass das Verhalten dieses Mannes akzeptabel sei. Wer nichts sagt, stimmt zu”, sagt Davis.

Hohe Suizidrate

Schwule und bisexuelle Männer in Genf sind drei- bis viermal häufiger Opfer von Gewalt als Männer der Schweizer Bevölkerung im Allgemeinen. 80% von ihnen wurden mindestens einmal in ihrem Leben Opfer irgendeiner Form von Gewalt. Spezifische Daten der Stadt Genf sind dank Santé gaie verfügbar. Das Projekt wurde im Jahr 2000 vom Genfer Verein Dialogai und der Universität Zürich ins Leben gerufen.

Dieses Forschungs- und Aktionsprogramm hat auch aufgezeigt, dass 20% der Schwulen in der Schweiz Suizidversuche unternommen haben. Die Hälfte der Versuche wird von Personen gemacht, die noch keine 20 Jahre alt sind.

Es ist nicht das erste Mal, dass der in den USA geborene Journalist Opfer von Homophobie wird. “Ich wurde in Los Angeles, New York und in Dakar angegriffen, manchmal verbal, einmal physisch”, sagt er. Auch in Paris machte er diese Erfahrung mehrmals. “Aber damals unterstützte mich niemand. Ich fühlte mich viel einsamer.”

In der Schweiz habe er sich noch nie Sorgen gemacht. “In meinem Umfeld fühle ich mich wirklich sicher. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Homosexualität je nach Vorstellung von Männlichkeit, in einigen Milieus immer noch nicht akzeptiert ist. Jordan Davis verweist darauf, dass die Schweiz eher offen sei, hat sie doch als erstes Land per Volksabstimmung homosexuelle Paare rechtlich anerkannt. 58% der Stimmenden hatten im Juni 2005 dem Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft zugestimmt.

Von der verbalen zur physischen Aggression

Hinter dieser scheinbaren Toleranz verbirgt sich allerdings eine etwas weniger rosige Realität. Seit gut einem Jahr registriert die Internetseite LGBT+ HelplineExterner Link Fälle von homophober Gewalt in der Schweiz. Die Organisationen, die hinter diesem Projekt stehen, laden Opfer dazu ein, sich über das Internet oder eine kostenlose Telefonnummer zu melden.

Simon Dreschers ist Mitverantwortlicher des Projekts. Er hält den Fall von Jordan Davis für besorgniserregend, überrascht ist er aber nicht. “Das ist keine ungewöhnliche Situation. Ich habe das auch schon selbst erlebt, und viele Leute berichten von ähnlichen Übergriffen.” Für Simon Drescher ist Homophobie in der Schweiz ein echtes Problem. “Es zu leugnen, wäre Unwissenheit.”

Von einer kleinen verbalen Attacke bis hin zu körperlicher Aggression: Die von der Internetseite registrierten Fälle von Homophobie sind sehr unterschiedlich. Ziel des Projekts ist es, das Fehlen von Statistiken über homo- und transphobe Gewalt in der Schweiz etwas aufzufangen. Wenn keine Daten erfasst würden, sei es für Behörden, Polizei und Politiker, als ob es diese Gewalt nicht gäbe, ist auf der Internetseite zu lesen.

Die Initiatoren der Helpline gehen davon aus, dass fast jede dritte schwule, bisexuelle oder transgender Person Opfer von Diskriminierung oder Gewalt sei. Drei Monate nach der Lancierung des Projekts hätten sie bereits rund 100 Fälle bearbeitet, sagt Bastian Baumann, der ehemalige Direktor von Pink Cross. Der Schweizer Dachverband der Schwulen leitet die Helpline. Ende Januar wird die Plattform nun ihren ersten Geschäftsbericht veröffentlichen. “Diese Daten werden aber nur die Spitze des Eisbergs zeigen, weil wir nicht genügend Ressourcen haben, um Werbung für unsere Seite zu machen”, sagt Simon Drescher.

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Gesetzeslücke

Neben einer offiziellen nationalen Datenerhebung sollte die Schweiz über eine Rechtsgrundlage für die Bekämpfung der Homophobie verfügen, findet Simon Drescher. Im Unterschied zu Frankreich, Österreich, Dänemark oder den Niederlanden kennt die Schweiz diesbezüglich keine spezifischen Vorschriften.

Artikel 261bis des Strafgesetzbuches, bekannt als “Antirassismus-Norm”, bestraft Diskriminierung aufgrund rassischer, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, nicht aber aufgrund sexueller Orientierung oder der Geschlechtsidentität – ein Mangel, auf den auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte hinweist.

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So wird beispielsweise bei körperlicher Aggression die homophobe Natur des Angriffs gesetzlich nicht anerkannt. Auch gegen allgemeine Äusserungen wie “alle Homosexuellen in die Lager” kann juristisch nicht vorgegangen werden. Darüber hinaus verweigert das Bundesgericht den LGBTIQ (Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Transgender-, Queer- und Intersex-Verbänden) das Recht auf Klageerhebung. “Ohne Zahlen ist es schwierig, Prävention zu betreiben und ohne Rechtsgrundlage können wir nicht davon ausgehen, dass diese Menschen wirklich geschützt sind”, bedauert Simon Drescher.

Homophobie wie Rassismus bestrafen

Auf der politischen Bühne tut sich bereits etwas: Ein vom sozialdemokratischen Abgeordneten Mathias Reynard initiierter Entwurf einer Revision des Strafgesetzbuches wird derzeit im Parlament diskutiert. Die parlamentarische Initiative schlägt vor, den Artikel über die Bekämpfung der Rassendiskriminierung durch eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität zu ergänzen. Die Taten könnten somit mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren geahndet werden. “Mit diesem Vorschlag wollen wir zeigen, dass wir entschlossen gegen alle Formen der Diskriminierung kämpfen wollen, die zu Hass in der Bevölkerung führen könnten”, sagt Mathias Reynard.

Die Parteien des rechten Lagers sind jedoch entschieden dagegen. Die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) ist der Ansicht, dass das Strafgesetzbuch ausreichenden Schutz vor Angriffen auf Ehre oder körperliche Unversehrtheit bietet und dass es daher nicht notwendig ist, die Antirassismus-Norm zu ergänzen. Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die stets gegen diese Norm war, ist der Ansicht, dass die Aufnahme der Homophobie in das Strafgesetzbuch dazu führen würde, dass “jede Gruppe, die als Gruppe ohne Mehrheit anerkannt ist”, berücksichtigt und ein Ad-hoc-Gesetz zu ihrem Schutz ausgearbeitet würde.

Vor einer möglichen Gesetzesänderung stehen der Schweiz also noch heftige Diskussionen bevor. Weil die Bearbeitungszeit für das Projekt um zwei Jahre verlängert wurde, wird sich das Parlament erst im Frühjahr 2019 mit dem Text befassen.

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