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Trümmer und Drohnen: An der No-Go-Zone zwischen Libanon und Israel

Personen in blauen Westen überblicken eine Landschaft, ein weisses Auto neben ihnen
War es ein Luftangriff oder wurde eine Mine gesprengt? Das Team "Zulu" der Observer Group Lebanon hörte einen Knall und hält Ausschau nach Rauch. Giannis Mavris / SWI swissinfo.ch

Die Demarkationslinie zwischen Libanon und Israel ist nach dem Krieg 2024 zu einem zerstörten Niemandsland geworden. Wir haben UNO-Militärbeobachter während einer Patrouille auf der libanesischen Seite begleitet.

Kaum sind wir aus den Fahrzeugen gestiegen, hören wir aus der Ferne einen lauten Knall. Etwa zehn Kilometer südöstlich von uns steigt eine Rauchwolke auf. Hauptmann Julien packt den Feldstecher aus und beschreibt, was er sieht, der Leiter der Patrouille Hauptmann Leighton protokolliert. Ob der Knall ein Angriff ist oder von einer Entminungsaktion stammt, ist zu dem Zeitpunkt unklar. Über uns kreist – gut hörbar – eine Drohne.

Es ist der erste Stopp der Patrouille eines Teams der Observer Group Lebanon, das zur ältesten UNO-Mission der Welt gehört. Das vierköpfige Team besteht an diesem Tag aus dem Schweizer Hauptmann Julien, Patrouillenleiter Hauptmann Leighton aus Neuseeland, dem russischen Hauptmann Anton und dem libanesischen Übersetzer Ali. Sie sind Teil der UNTSO-Mission im Libanon, wie üblich in dieser Mission wird nur der Vorname der Offiziere verwendet.

Die United Nations Truce Supervision Organization UNTSOExterner Link ist die älteste UNO-Mission der Welt. Sie wurde 1948 eingesetzt, um den Waffenstillstand zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten zu überwachen. 388 Militärs und ziviles Personal sind in Libanon, Syrien, Jordanien, Ägypten und Israel tätig – manche leisten Einsätze wie den hier beschriebenen in mehreren Ländern. In Libanon arbeiten sie eng mit der UNIFIL zusammen, die Ende 2026 aufgelöst werden soll.

Zurzeit sind 14 Schweizer Armeeangehörige bei der UNTSO im Einsatz, in allen Stationen und in allen fünf Staaten, die vom Mandat abgedeckt werden. Auch der Missionschef ist ein Schweizer: Divisionär Patrick Gauchat ist damit der ranghöchste Schweizer Militär in der UNO. Insgesamt sind rund 300 Schweizer Armeeangehörige im Rahmen der FriedensförderungExterner Link weltweit im Einsatz.

Wir befinden uns in der Ortschaft Al-Qaouzah, einem christlichen Dorf zwei Kilometer von der Blue Line entfernt, der Demarkationslinie zwischen Libanon und Israel. Die stets unbewaffneten Militärbeobachter stecken eine hellblaue UNO-Flagge an eine Eisenstange, die aus einem Geröllhaufen ragt. Noch vor kurzem war der Haufen ein Haus – zerstört im Krieg 2024. Hier stellen sie heute ihre erste temporäre Beobachtungsstation auf.

Die Flagge soll die Militärbeobachter klar kennzeichnen. Denn sie selbst werden auch beobachtet: Die über uns fliegende Drohne wird uns wohl während der ganzen Patrouille verfolgen. Rapportiert wird sie jedoch nicht: «Dafür müssen zwei Beobachter aus zwei unterschiedlichen Staaten sie sichten und nicht nur hören können, so sehen es unsere Vorschriften vor.» Dieser Morgen Anfang November ist ziemlich dunstig, die Sicht ist eingeschränkt. Von wem ist die Drohne? «Auch wenn wir sie nicht sehen, gehen wir davon aus, dass es sehr wahrscheinlich eine israelische Drohne ist», sagt Hauptmann Julien.

Dass es sich um eine Drohne der israelischen Streitkräfte IDF handelt, liegt auf der Hand. Israel hält eine engmaschige Überwachung des nördlichen Nachbars aufrecht. Israelische Drohnen operieren im ganzen Land – in der Hauptstadt Beirut, der östlich gelegenen Bekaa-Ebene, und vor allem im Süden an Grenznähe.

Solche Drohnenflüge sind Verstösse gegen das Waffenstillstandsabkommen zwischen Libanon und Israel vom November 2024. Das Mandat der Observer Group Lebanon ist es, solche Verstösse zu protokollieren und zu melden. Die Militärbeobachter halten sich streng an die Unparteilichkeit der UNO, Mutmassungen sind von ihnen während der Patrouille keine zu hören, in ihrer Wortwahl bleiben sie mir gegenüber zurückhaltend.

Die Region ist eine Hochburg der schiitischen Hisbollah. Sie begann nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 damit, Raketen auf Israel abzufeuern. Israel schlug zurück, in einem kurzen, äusserst blutigen Krieg dezimierte es 2024 die Führungsriege der Hisbollah und zerstörte einen vermutlich sehr grossen Teil ihres Waffenarsenals. Seither ist die Organisation militärisch stark geschwächt, mischt auf politischer Ebene aber weiterhin in der libanesischen Politik mit.

Die Beobachter protokollieren Verstösse

Wir fahren weiter Richtung Demarkationslinie. Vom Beobachtungspunkt waren einige Dörfer zu sehen, überall sind Gebäude zerstört. Allerdings nicht so wie im Dorf Ramiyah, in das wir nun kommen: Das Dorf ist komplett zerstört, von den meisten Gebäuden stehen nur noch Betonskelette, überall liegen Trümmerhaufen, viele Strassen sind nicht befahrbar – es liegen weiterhin noch viele Blindgänger herum.

Ramiyah ist eines von Dutzenden Dörfern, die von der israelischen Armee zerstört wurden. Alles, was ungefähr ein Kilometer zur Blue Line stand, steht nicht mehr. «Die Gebäude wurden zunächst durch Luftschläge und Artillerie getroffen und später mit Sprengladungen zerstört», sagt Hauptmann Julien.

Israel hat entlang der gesamten Blue Line diese Pufferzone errichtet, in der die israelische Armee kein Wiederaufbau erlaubt. Während in weiter weg stehenden Dörfern die Einheimischen teilweise zurückkehren, sind Orte wie Ramiyah zu No-Go-Zonen geworden. Auf Leute, die zurückkehren wollen, werden Warnschüsse abgegeben oder mit Drohnen Blendgranaten abgeworfen. In den Trümmern von Ramiyah hängen dennoch vereinzelt Märtyrerbilder und Flaggen – die Hisbollah will signalisieren, dass sie nicht wegzugehen gedenkt.

Von Ramiyah aus können wir auch einen israelischen Vorposten sehen. Die israelische Armee hält noch immer fünf illegale Vorposten auf libanesischem Territorium – auch das ein Bruch des Waffenstillstandsabkommens. Wir sehen auch Radiotürme und einen Grenzwall, der sich entlang der gesamten Blue Line durchzieht. Dieser Wall soll Angriffe aus libanesischem Territorium verunmöglichen.

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Der Druck auf den Libanon wächst

In Ramiyah wohnten vor dem Krieg rund 3000 Menschen, sie sind alle in den Norden geflohen. Eine Rückkehr scheint nicht möglich, zumindest nicht, bevor eine politische Lösung gefunden wird.

In den Tagen vor der Patrouille hat die israelische Armee Ziele im Südlibanon und in der Bekaa-Ebene angegriffenExterner Link. Dabei wurden mehrere Menschen getötet und zahlreiche verletzt. Israel sagte, dass es sich um Hisbollah-Mitglieder handelte und wirft der Organisation vor, wieder ihr Waffenarsenal aufzubauen, was das Waffenstillstandsabkommen verbietet. Gemäss israelischen Medien sollen seit der Unterzeichnung mehr als 300 Hisbollah-Mitglieder getötet worden sein, die UNO spricht von mehr als 100 zivilen Opfer. Auch bei den Opferzahlen gibt es unterschiedliche Ansichten.

In Beirut fürchten sich zurzeit viele vor einem neuen Krieg – jetzt, wo es in Gaza ruhiger sei, könne Israel zum finalen Schlag gegen die Hisbollah ausholen. Für das arg gebeutelte Land eine Horrorvorstellung: 2024 gab es Tausende Tote und mehr als 1,2 Million Vertriebene, das war knapp ein Fünftel der Bevölkerung. Noch immer konnten Zehntausende von Menschen nicht in ihre Häuser zurückkehren.

Gemäss Abkommen muss sich die Hisbollah aus dem Südlibanon zurückziehen und sich von der libanesischen Regierung entwaffnen lassen. Dazu, in welchem Mass das passiert, gibt es unterschiedliche Ansichten. «Die Präsenz der libanesischen Armee im Süden hat jedenfalls zugenommen im letzten Jahr», sagt Hauptmann Julien.

Ein Schweizer Offizier in einem UNO-Gewand
Der Schweizer Hauptmann Julien ist seit diesem Sommer im Libanon für die UNTSO stationiert. Giannis Mavris / SWI swissinfo.ch

Die israelischen Angriffe und der wachsende diplomatischer Druck der USA, die Hisbollah zu entwaffnen, sind für die libanesische Regierung ein grosses Problem – im Fall einer offenen Konfrontation fürchtet man sich im Land vor einem erneuten Bürgerkrieg.

Die Militärbeobachter werden wohl noch lange bleiben

Unsere Patrouille fährt weiter durch verschiedene Dörfer der Region. Wenn möglich interagieren die Beobachter mit den Einheimischen, treffen sich mit den lokalen Bürgermeistern, sprechen mit Bauern über die Ernte. «Die UNO hat einen guten Ruf in der Region. Für die Leute hier bedeutet ihre Präsenz, dass die Welt hinschaut», sagt Hauptmann Julien.

Am Mittag essen wir in einem Restaurant. Es gibt frisch gemachte Lahm bi ajeen, eine Art Teigtasche mit Hackfleisch. Im Lokal ist man sich die Präsenz der UNO-Soldaten gewöhnt, nur mit mir wollen ein paar junge Männer ein Foto machen. Schicken sie das Foto des unbekannten Gesichts an die Hisbollah? Hauptmann Julien zuckt auf meine Frage hin mit den Achseln.

Am Ende der Patrouille verfassen die Militärbeobachter in der UNO-Basis Naqoura ihr Protokoll. Mittlerweile ist bekannt: Beim Knall handelte es sich um einen Angriff der israelischen Armee auf ein Auto in einem nahen Dorf. Ziel soll ein Hisbollah-Mitglied gewesen sein. Es gab einen Toten und Verletzte. Und auch in den nächsten Tagen wird es weitere solche Angriffe geben.

Was hält die Zukunft für die UNTSO bereit? Das Mandat der ungleich grösseren Mission UNIFIL-Mission dauert bis Ende 2026, danach wird sie ihre Präsenz im Libanon schrittweise auflösen. Damit würde der UNTSO mehr Gewicht zufallen – in einer Region, die seit Jahrzehnten heftigen Spannungen ausgesetzt ist. Aber Prognosen machen mag keiner: Ein Jahr ist eine sehr lange Zeit hier.

Editiert von Benjamin von Wyl

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