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Barrierefreier Kulturgenuss ist für Menschen mit Beeinträchtigungen kaum möglich

Frau mit Kopfhörer, die in der ersten Reihe eines Theatersaals sitzt
Eine Aufführung nur über den Ton zu erleben, ist wie ein Hörbuch, aber inmitten eines Publikums. Céline Stegmüller / SWI swissinfo.ch

Der Zugang zur Kultur ist für Menschen mit Beeinträchtigungen in der Schweiz noch keine Selbstverständlichkeit, obwohl das Land bereits vor zehn Jahren das UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen unterzeichnet hat. Verschiedene Verbände setzen sich dafür ein, die Lücken im System zu schliessen.

Im grossen Saal des Théâtre du Passage in Neuenburg brummt es. Immer mehr Menschen gehen von links nach rechts durch die Sesselreihen. In der ersten Reihe sitzen bereits ein Dutzend Personen.

Sie haben Kopfhörer auf den Ohren und drehen sich nicht um, um die Leute zu beobachten, die mit ihren Eintrittskarten in der Hand den Saal nach ihrem Platz absuchen.

Die meisten Menschen, die Kopfhörer aufgesetzt haben, können auch die Bühne nicht sehen, die nur einen Meter von ihrem Platz entfernt ist. Die Gruppe besteht aus blinden und sehbehinderten Menschen, die dank der von der Association Ecoute Voir organisierten Live-Audiodeskription an dieser Theateraufführung teilnehmen werden.

Ein Konzert, ein Theater, ein Kino oder eine Oper zu besuchen, ist ein Grundrecht. Für viele Menschen in der Schweiz ist dies eine Selbstverständlichkeit, für andere bleibt es aber eine Utopie.

Neben baulichen Barrieren und den Eintrittskosten, die einen Teil der Bevölkerung von der kulturellen Teilhabe abhalten, sind spezifische Massnahmen zur Barrierefreiheit, die Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen den Besuch kultureller Veranstaltungen ermöglichen, noch zu wenig verbreitet.

Es gibt noch keine nationale Strategie zur Inklusion

Im Gegensatz zu Frankreich, wo seit 2005 ein Gesetz die Kulturinstitutionen verpflichtet, die Zugänglichkeit für alle Besuchenden zu garantierenExterner Link, ist das Thema in der Schweiz noch nicht Teil einer nationalen Strategie.

In der Kulturbotschaft 2025-2028Externer Link, welche die kulturpolitischen Leitlinien des Bundesrats für die nächsten vier Jahre festlegt, werde der Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen zu wenig Gewicht beigemessen, sagt Pro Infirmis, die Dachorganisation, die jene 22% der Schweizer Bevölkerung mit einer oder mehreren Beeinträchtigungen vertritt.

Auf Anfrage erklärt Myriam Schleiss, Leiterin der Fachstelle Kulturelle Teilhabe im Bundesamt für Kultur (BAK): “Die Kulturbotschaft ist eine sehr breit angelegte politische Orientierung, die vom Parlament, also von allen politischen Parteien, verabschiedet werden muss und den finanziellen Rahmen für die Kulturpolitik vorgibt. Erst wenn die Botschaft verabschiedet ist, werden konkrete Massnahmen ergriffen.”

Die Einführung einer gesetzlichen Pflicht, ähnlich wie bei der Frage der Frauenquote zur Gleichstellung, befürworten die von SWI swissinfo.ch kontaktierten Personen in den betroffenen Kreisen nicht einhellig. Frankreich sei zwar ein Modell, aber nicht perfekt, heisst es.

Yann Griset, Präsident von “SurdiFrance”, dem nationalen französischen Verband der Hörgeschädigten und Gehörlosen, meint auf Anfrage, es gebe noch viel zu tun.

“Wenn ich eine Note geben müsste, wäre es eine 5 von 10. Das ist nicht  besonders gut. Das heisst: Wir machen Fortschritte, aber wir können uns noch verbessern.”

Eine Theateraufführung mit den Ohren “sehen”

In Neuenburg steht eine kleine, mit Kopfhörern ausgestattete Gruppe in der ersten Reihe vor der Bühne des Théâtre du Passage. Sie sieht sie nicht, kennt sie aber.

Bevor die Zuschauerinnen und Zuschauer den Saal betreten durften, konnten sie, begleitet von einer Audiodeskriptorin, über die Bühne laufen und dank der Beschreibung das Bühnenbild “mit eigenen Augen” entdecken.

Dabei erhielten sie wichtige Informationen, um sich die Szenen, die ihnen später über den Kopfhörer beschrieben werden, besser vorstellen zu können.

Der Bühnenbesuch bildete den Abschluss des vom Verein Ecoute Voir organisierten Workshops, bei dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit der Sprache der Audiodeskription und den Gebärden der Schauspielerin vertraut machen konnten.

Der Verein Ecoute Voir bietet seit etwa zehn Jahren jährlich rund 50 Aufführungen für Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen an.

“Wir wollten diese Aktivität in allen Arten von Kulturlokalen entwickeln, ob klein oder gross, und dann in allen Kantonen der Westschweiz präsent sein. Gerade um sie für diese Zugänglichkeit zu sensibilisieren”, sagt Corinne Doret Bärtschi, Gründerin und Co-Direktorin von Ecoute Voir.

“Ja, man kann etwas tun; nein, es ist nicht so kompliziert, wie es scheint, aber man muss etwas Energie und Mittel investieren.” In der Deutschschweiz gebe es keinen solchen Verein. Interessierte Institutionen müssten sich an Kulturbeauftragte wenden.

Die Schweiz im Rückstand bei der kulturellen Inklusion

Pro Infirmis, die Dachorganisation, die sich für die Selbstbestimmung und Inklusion von Menschen mit Behinderung einsetzt, hat die Ergebnisse ihrer ersten Umfrage bei den 22% der Schweizer Bevölkerung veröffentlicht, die sie vertritt. Bei der Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen fühlen sich zwei von fünf Personen eingeschränktExterner Link.

Die kulturelle Teilhabe ist auch in der UNO-Behindertenrechtskonvention verankert, welche die Schweiz 2014 unterzeichnet hatExterner Link. Der Bericht des UNO-Ausschusses, der die Umsetzung der Konvention überprüfte und 2022 veröffentlicht wurdeExterner Link, ist laut Nicole Grieve, Leiterin der Abteilung Inklusive Kultur bei Pro Infirmis, eindeutig.

“Wir stehen immer noch am Nullpunkt, was die öffentliche Finanzierung von Diversität und Inklusion im Kulturbereich betrifft. Die Kantone verweisen auf die Städte, die Städte verweisen auf den Bund, alle verweisen auf die Stiftungen”, bedauert sie.

Die nationale Fachstelle Kultur inklusivExterner Link wurde 2016 von Pro Infirmis ins Leben gerufen, um Institutionen auf dem Weg zu barrierefreien und inklusiven Programmen und Infrastrukturen zu informieren und zu begleiten.

Bis heute haben über 80 Institutionen und Veranstaltungen ein Label erhalten, das ihre Bemühungen in diese Richtung dokumentiert. Nach Ablauf der Förderperiode wurde die Weiterführung des Projekts diskutiert: Die Fachstelle wird nun mit einem reduzierten Team und einem neu ausgerichteten Angebot weiterarbeiten.

Das Problem der Finanzierung zieht sich wie ein roter Faden durch die Aussagen, die SWI swissinfo.ch bei den verschiedenen Organisationen und Verbänden eingeholt hat, die sich für die Integration von Menschen mit Beeinträchtigung in den Kulturbetrieb einsetzen.

“Acht Jahre lang hat Pro Infirmis die Fachberatung der Partner kostenlos durchgeführt. Eigentlich müsste jede Fachberatung auf die Dauer bezahlt werden”, sagt Stéphanie Zufferey, Mitglied der Geschäftsleitung von Pro Infirmis.

“Zweitens ist es in erster Linie Aufgabe der öffentlichen Hand, die Gesellschaft inklusiver zu gestalten, unser Verband hat den Anstoss dazu gegeben. Die öffentliche Hand, also der Bund, muss sich finanziell stärker engagieren.”

Regional werden Angebote entwickelt

Solange ihre Rechte nicht garantiert sind, können Menschen mit Beeinträchtigungen jedoch auf eine Reihe von lokalen, regionalen und überregionalen Vereinigungen zählen, die sich um ihre Einbeziehung in öffentliche Kulturveranstaltungen bemühen.

Im ganzen Land werden Kinovorführungen mit Audiodeskription, taktile und beschreibende Museumsbesuche und Übertitelungen in Theatervorstellungen organisiert.

In Lausanne ermöglicht das Orchester Sinfonietta gehörlosen und hörgeschädigten Kulturinteressierten den Besuch der Saisonkonzerte, indem es ihnen vibrierende Gilets zur Verfügung stellt.

Neben der Notwendigkeit von Inklusionsbemühungen betont Zufferey, wie wichtig es ist, die Wahrnehmung von Beeinträchtigungen in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext zu verändern.

Sie verweist auf den Blick der Gesellschaft, der die Legitimität von Menschen mit Beeinträchtigungen in Frage stellt, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen.

“Man kann so viel Kulturvermittlung machen, wie man will. Wenn die Person selbst nicht das Gefühl hat, dass sie das Recht hat ist, daran teilzunehmen, dann wird sie nicht kommen.”

Editiert von Mark Livingston/sj, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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