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Das wahre Gesicht der Hexen (und Hexer)

Austellung im Anna Göldi Museum, der letzten Hexe Europas
Im Kanton Glarus gibt es ein Museum, das Anna Göldi gewidmet ist. Sie war die letzte Hexe, die 1782 in Europa vor Gericht gestellt und hingerichtet wurde. Sie wurde 2008 rehabilitiert. Keystone / Steffen Schmidt

Die in der Stadt Fribourg geführten Hexenprozesse werden in der Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen veröffentlicht. Diese Dokumente beleuchten die Mechanismen von Hexenprozessen. Vor allem aber räumen sie mit Vorurteilen auf.

Zwei Mitarbeitende des Staatsarchiv Fribourg, Lionel Dorthe und Rita Binz-Wohlhauser, haben während sechs Jahren die verschiedenen Register und Dokumenten von 360 Hexenprozessen untersucht, die zwischen 1493 und 1741 vor dem Gericht der Stadt Fribourg verhandelt wurden. Das Archiv, das seit letztem Jahr online zugänglich ist, wurde nun in zwei Bänden von der Rechtsquellenstiftung des Schweizerischen Juristenvereins herausgegeben.

Das Interesse an diesen Dokumenten geht über den lokalen Rahmen hinaus. «Normalerweise beschränken sich die Nachforschungen auf einen ganz bestimmten Zeitraum oder ein ganz bestimmtes Ereignis», hält Lionel Dorthe fest. Alle Hexenprozesse über einen so langen Zeitraum dokumentiert zu haben, sei eine Premiere und könne als Vergleichsmassstab für andere Regionen der Welt dienen.

Ein Phänomen des Ancien Régime

In der Öffentlichkeit werden Hexenprozesse oft mit dem Mittelalter und der Inquisition in Verbindung gebracht. Das ist aber nur teilweise richtig. «Es besteht das Vorurteil, dass diese Verfolgungen aus dem Mittelalter stammen und dass die Kirche sich darum gekümmert hat, aber in Wirklichkeit handelt es sich um ein Phänomen während des Ancien Régimes», sagt Dorthe. Im Zeitraum vom 16. bis 18. Jahrhundert hätten die meisten Prozesse in Europa und sogar in den USA stattgefunden. «Und sie wurden fast ausschliesslich von weltlichen Gerichten geführt.»

«Das Phänomen der Verfolgung taucht zwar zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf, dem letzten des Mittelalters», räumt der Experte ein. Damals seien dämonologische Abhandlungen verfasst worden und man habe begonnen, an die Bildung einer satanischen Sekte zu glauben, die der christlichen Gesellschaft feindlich gesinnt gewesen sei. «An der Basis war es tatsächlich die Inquisition, die meist von Dominikanern geleitet wurde, die begonnen hatte, Menschen wegen Hexerei zu verfolgen.»

Die weltlichen Obrigkeiten, die von Anfang an in den Prozess involviert waren, übernahmen jedoch bald das Ruder und waren schnell bereit, Menschen wegen Hexerei anzuklagen.

Das Ausmass des Phänomens ist unterschiedlich. Wenn man einige verschwundene Register berücksichtigt und die Prozesse in den Vogteien einbezieht, kommt man für den gesamten Kanton Fribourg auf rund 1000 Prozesse in 250 Jahren. Das waren durchschnittlich vier pro Jahr, was kein Massenphänomen darstellt. Im Kanton Waadt waren es im gleichen Zeitraum 3000 Prozesse.

«Die Intensität war nicht in allen Regionen Europas gleich», bestätigt Dorthe. Wo die Macht nicht gesichert gewesen sei, wie etwa im Waadtland unter bernischer Herrschaft, nutzten die Richter ihre Kompetenzen im Kampf gegen die Hexerei. «Es ist typisch: Je weniger Macht man hatte, desto mehr nutzte man sie», so Dorthe. Aber in Regionen mit mehr Macht, wie Fribourg oder Frankreich, habe es keine Konkurrenz um die Vorrechte der Justiz gegeben und die Hexenprozesse seien keine politischen Waffen gewesen.

Aktive Teilnahme der Bevölkerung

Die Fribourger Archive zeigen, dass eine Anklage wegen Hexerei fast jeden treffen konnte. «Natürlich gab es Personen, die dem Klischee entsprachen: Etwa eine ältere Frau, die allein lebte und als Heilerin arbeitete», sagt Dorthe. Aber es habe kein typisches Profil gegeben. Es traf auch Männer und sogar Kinder. «Auch die soziale Herkunft war vielfältig: So gab es einen Schlossherrn, der als Richter in einer Vogtei tätig war, und selbst Hexenprozesse geführt hatte.»

Die Expert:innen vermeiden in diesem Zusammenhang den feststehenden Begriff «Hexenjagd», weil das Phänomen in einem Drittel der Fälle auch Männer betraf. Aber auch, weil der Begriff «Jagd» ein willentliches und gezieltes Vorgehen der Behörden suggeriert. «Das Phänomen ist jedoch komplexer», stellt der Archivar fest. «Ohne die Beteiligung der Bevölkerung, eines Verwandten oder von Nachbar:innen und ohne den Glauben an Teufel und Magie wäre es nicht so weit gekommen».

Seite eines alten Buches der den Prozess gegen Cristian Born zeigt
Erste Seite des Prozesses gegen Cristian Born, einem Zauberer und Milchmann, der im Jahr 1517 zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde. Archives de l’Etat de Fribourg

«Der Vorwurf der Hexerei war ein Ventil, um das Unglück der Zeit oder persönliche Missgeschicke zu erklären», sagt Dorthe. Ein ideales Mittel, um einen unliebsamen Nachbarn oder eine zu aufdringliche Schwiegermutter loszuwerden. «Starb ein Kleinkind, wurde versucht, den Schuldigen oder die Schuldige zu finden, vor allem, wenn es sich um eine Hebamme oder einen Heiler handelte.» Habe ein Bauer festgestellt, dass die Leistung seiner Kühe nachliess, habe er ebenfalls nach einem Sündenbock gesucht.

«In Fribourg, wo die Milchwirtschaft wichtig war, wurden immer wieder Nachbarn beschuldigt, mit Zauberei den Kühen die Milch abzuzapfen und sie in die Euter ihrer eigenen Tiere zu leiten», erzählt Dorthe.

Nicht immer Tod

Mit Hexenprozessen verbindet die Öffentlichkeit oft Szenen von Folter und Tod auf dem Scheiterhaufen. Diese Vorstellung ist nicht falsch, die damalige Justiz war hart, aber nicht unbedingt blind.

Die Richter wandten zwar Folter an, aber nicht systematisch. Ausserdem war sie nur ein Werkzeug. «Die Folter existierte, um die Arbeit der Justiz zu unterstützen», erinnert Lionel Dorthe. «Wir müssen jeden Anachronismus vermeiden, indem wir unsere Emotionen und Überzeugungen über die der Vergangenheit stellen.»

Man dürfe die Richter nicht als Sadisten betrachten. Sie hätten ihre Arbeit machen müssen, und die damaligen Gesetzestexte hätten ihnen erlaubt, Folter anzuwenden, «um Zungen zu lösen».

Am Ende des Prozesses stand nicht unbedingt der Tod. In den meisten Fällen (40%) endeten die Prozesse mit der Verhängung der äusseren Verbannung – die verurteilte Person musste den Kanton verlassen – oder der inneren Verbannung – der oder die Verurteilte wurde auf seine Kirchgemeinde beschränkt und durfte diese nicht verlassen. In weniger als einem Drittel der Fälle (30%) wurde die Todesstrafe verhängt.

Bei Hexereiverbrechen erfolgte der Tod durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen. Bei der Hälfte der 80 in Fribourg verzeichneten Hinrichtungen wurde die Strafe «gemildert». Damit die verurteilte Person nicht durch die Flammen starb, wurde sie zunächst erdrosselt. Manchmal wurde ihr auch ein Säckchen mit Schiesspulver um den Hals gelegt, das explodierte und dem Tod durch Verbrennung zuvorkam.

Das Bild der emanzipierten Hexe

Heute wird die Verfolgung wegen des Verbrechens der Hexerei als ein Phänomen dargestellt, das ausschliesslich Frauen betraf. Diese Darstellung wird jedoch von den Archiven nicht gestützt. «Die feministische Figur der Hexe entspricht in keiner Weise den historischen Quellen», stellt Dorthe fest. Die Vorstellung, dass die Hexe eine unabhängige Frau gewesen sei, die den Hass des Patriarchats auf sich zog, sei falsch.

Skifahrerinnen, die als Hexen verkleidet sind.
Heute ist das Bild der Hexen in die kollektive Vorstellungswelt eingegangen und wird für alle möglichen Zwecke verwendet, wie hier für das «Belalp-Hexen-Skirennen» im Kanton Wallis. Keystone

«Diese Feminisierung des Phänomens hat ihren Ursprung in ‹La sorcière›, einem Essay von Jules Michelet», so Dorthe. Dieser französische Historiker des 19. Jahrhunderts habe die Hexe in ein ideales oder idealisiertes Opfer verwandelt, in eine Figur, die gegen jede Autorität gekämpft habe. «Dieses Bild entsprach eher den sehr romantischen Sehnsüchten des 19. Jahrhunderts als den historischen Tatsachen. Viele Feministinnen haben dieses Bild der emanzipierten oder emanzipatorischen Hexe ab den 1960er-Jahren wieder aufgegriffen.»

Diese Vereinnahmung stört den Experten allerdings nicht. «Als Wissenschaftler kann man das skandalös finden, weil es nicht der Realität entspricht», sagt Dorthe. Aber für die Wirksamkeit des Diskurses, den man heute führen wolle, sei es zweifellos sinnvoller, ein Symbol zu verwenden als eine grosse Rede dagegen zu halten.

«Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Emotion über die Vernunft siegt», so der Experte. Grund dafür seien die sozialen Netzwerke. «Es ist daher wirkungsvoller, eine fast vertraute Figur wie die Hexe zu verwenden, auch wenn diese Figur weit von der historischen Realität entfernt ist.»

Übertragung aus dem Französischen: Melanie Eichenberger

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