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Der letzte Teil von Sylvain Georges Migrations-Trilogie kommt nach Cannes

Film
Ein durch seine Ethnie definiertes Kind wird oft als «wild und gefährlich» wahrgenommen, sagt Sylvain George. zvg

Der Dokumentarfilm Obscure Night – Ain't I a Child? des französischen Regisseurs Sylvain George wurde für ACID ausgewählt, eine Sektion der Filmfestspiele von Cannes, die mutige Werke präsentiert. Wir trafen den Filmemacher, als sein Film bei Visions du Réel in Nyon uraufgeführt wurde.

Sylvain George, Dokumentarfilmer und Philosoph, schliesst seine Obscure Night-Trilogie mit Ain’t I a Child? ab. Der Titel ist der ikonischen Rede «Ain’t I a Woman?» der afroamerikanischen Abolitionistin und Bürgerrechtsaktivistin Sojourner TruthExterner Link entlehnt.

Wie der Titel bereits andeutet, wirft Georges Film, eine schweizerisch-französisch-portugiesische Koproduktion, eher Fragen auf als Antworten zu bieten. Was bedeutet Kindheit, und wem steht sie offen? Wer wird beschützt und wer vernachlässigt?

In seinen Dokumentarfilmen begleitet George minderjährige Migrant:innen. Die ersten beiden Filme — Goodbye Here, Anywhere (2023) und Wild Leaves (The Burning Ones, 2022) — wurden in Melilla gedreht, einer spanischen Enklave in Marokko, an der Afrika und Europa aneinandergrenzen. Für George «wird das Kind immer entweder auf jemanden reduziert, der als Opfer ‹gerettet› werden muss, oder dem die Unschuld seiner Jugend verwehrt wird».

Er fügt hinzu, dass ein durch seine Ethnie definiertes Kind oft als «wild» und gefährlich wahrgenommen wird. «Man denke nur an den 17-jährigen Nahel Merzouk, der 2023 in Frankreich von einem Polizeibeamten erschossen wurde, weil er keinen Führerschein besass. Er wurde nicht als gefährdeter Minderjähriger gesehen. Er wurde als unmittelbare Bedrohung betrachtet, die es zu neutralisieren galt», sagt der Filmemacher.

Minderjährige Migrant:innen erleben eine besondere Form von Kindheit, – die zugleich von Kontrolle und Verlassensein geprägt ist. «Der Film hinterfragt, was das Sichtbare ausmacht», sagt George. «Die politische Ordnung macht Migranten ständig überdurchschnittlich sichtbar und zugleich unsichtbar; wenn sie verschwinden, werden sie zu einer weiteren Zahl in der Statistik, die spurlos verschwindet.»

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Revolte in der Vorhölle

In den ersten beiden Filmen begleiten wir die Kinder durch ihren Alltag in Melilla — sie verstecken ihre Habseligkeiten unter Kanalisationsgittern, spielen und kämpfen miteinander, schwimmen, klettern über die befestigten Mauern und den Stacheldraht der Stadt und verspotten nachts die Sicherheitskräfte.

Sie bauen sich ein Leben in dieser Zwischenwelt zwischen der Heimat, die sie verlassen haben, und Europa, dem Ort ihrer Sehnsucht, auf. Die Kinder seines Films rebellieren gegen kapitalistische und kolonialistische Erwartungen, gegen den gewohnten Arbeits- und Freizeitalltag und gegen gesetzliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen.

In Ain’t I a Child? kommen Mallik, Mehdi und Hassan, die Hauptfiguren der vorherigen Filme, in Paris an. «Es war nicht meine Absicht, einen Film in Europa zu drehen», sagt George, «aber ich war in Kontakt mit vielen Leuten, die ich in Melilla gefilmt hatte, und eines Tages rief mich Mallik an und sagte, er sei in Paris. Dann kamen viele Leute aus Melilla in der Stadt an.»

George begann 2021 mit den Dreharbeiten und filmte über zwei Jahre hinweg. Gemeinsam mit den Kindern entdeckte er verborgene Orte in seiner Heimatstadt. «Der Film handelt von einem Mythos der Ankunft, in dem Paris zu einer weiteren Schwelle wird, nicht zu einem Ort der Ankunft, sondern zur Fortsetzung einer Gewalt, die weiterhin verdrängt, versucht, die Existenz dieser Leben auszulöschen und zu verbergen.»

Szene aus „Obscure Night - Ain't I a Child?“
Szene aus «Obscure Night – Ain’t I a Child?» zvg

Das Leben der Jugendlichen spielt sich in der Gegend rund um den Eiffelturm ab. Sie entwickeln eine neue Sicht auf die Stadt – es ist eine befremdliche, elende Szenerie, in der verlassene Gebäude, Kanalgitter, Boote auf der Seine und nächtliche Parks zu Zufluchtsorten werden. Die auf den Strassen verstreuten Eiffelturm-Souvenirs fungieren als falsche Ikonen und spiegeln die eigene Fata Morgana der Stadt wider.

Migration ist ein langsamer Prozess

Georges filmisches Ethos ist von seinem Hintergrund als Philosoph und ehemaliger Sozialarbeiter geprägt und stützt sich auf die Schriften von Walter Benjamin und Jacques Rancière. Die insgesamt rund zehnstündige Trilogie greift den Rhythmus des beobachtenden Slow Cinema auf.

Sie verzichtet auch auf lineare Erzählungen dramatischer Kämpfe zugunsten sich wiederholender Sequenzen. Das Leben der Kinder entfaltet sich in einer Abfolge endloser Nächte. Georges Rhythmus steht im krassen Gegensatz zu gängigen Darstellungen von Migration, die typischerweise durch sensationelle Schlagzeilen oder dramatische direkte Handlungsbögen geprägt sind.

«Die Langsamkeit lädt dazu ein, anders zu beobachten, die schwebende Zeitlichkeit des Exils, des Umherwanderns und die Tatsache zu begreifen, dass Vertreibung die Zukunft in der Schwebe hält. Migration ist kein linearer Weg, sie kreist, hält inne und verwandelt die Grenze in einen sich verändernden Raum.»

Seine Arbeit steht im Gegensatz zu neueren Einwanderungsdramen wie Souleymane’s Story, die Krisen in rasantem Tempo schildern und versuchen, durch dramatisches Erzählen Sympathien zu wecken. «Solche Filme bedienen sich der Strukturen des Feindes. Sie sind nicht politisch, sondern konfessionell. Sie verlangen Transparenz und Zeugenaussagen, ohne die reale strukturelle Gewalt der europäischen Gesetzgebung zu berücksichtigen», sagt George.

Sylvain George
Sylvain George während eines Fototermins beim 76. Internationalen Filmfestival von Locarno (2023), wo er den zweiten Teil seiner Trilogie «Obscure night – Goodbye here, anywhere» vorstellte. Keystone / Jean-Christophe Bott

Mit den Protagonisten, nicht über sie

Georges Interesse, Kinder zu filmen, bricht erneut mit Binaritäten: «Wenn ich einen Film mit einem Kind mache, will ich nicht keinen Film über das Kind machen. Es ist kein Blick von oben. Durch die Arbeit mit ihnen lerne ich, wie sie auf die Folgen der europäischen Politik reagieren.»

Er filmt sie bei der Eskalation ihrer Streitigkeiten, beim Kiffen, beim Durchwühlen von Müll auf der Suche nach Feuerzeugen und Lebensmitteln, wie sie über Bagatelldelikte wie Telefondiebstahl und Taschendiebstahl und über die Risiken des Rechtssystems für ihre künftige Staatsbürgerschaft in Europa diskutieren –nicht um zu beschönigen, sondern um das prekäre Kalkül des Überlebens aufzuzeigen.

Trailer von Wild Leaves (The Burning Ones, 2022), das erste Kapitel der Obscure Night Trilogie:

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Ohne didaktisch zu sein, dekonstruiert der Film die Assoziation von Kindheit und Opferrolle und zeigt stattdessen, inwiefern die Handlungen des täglichen Überlebens Gesten des Widerstands sind. «In den Nachrichten werden Migranten mit Metaphern von Naturkatastrophen beschrieben. Der französische Premierminister sprach sogar von ‹Wellen› der Einwanderung. In meinem Film stelle ich diese nautische Metapher in Frage. Diese jungen Menschen stehen nicht für Brüche – sie sind Strömungen, die sich weigern, dem Mainstream zu folgen. Sie finden durchlässige Grenzen vor, und dass sie diese überqueren, zeigt, dass die Macht des Westens schon immer zerbrochen war. Wenn man sieht, wie sie die Polizei verhöhnen und sie umkreisen, zeigt das die Absurdität des Systems auf.»

Trailer des zweiten Teils von Obscure Night, Goodbye here, anywhere:

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Die meisten Kinder stammen aus den Vorstädten von Marrakesch und Fes. «Viele von ihnen lebten als Folge der marokkanischen Monarchie und Diktatur in grosser Armut. Wenn sie fliehen, sind sie sich der Risiken bewusst. Die Überquerung der europäischen Grenzen ist bereits eine politische Entscheidung. Wenn sie auf der Strasse ein Feuer machen, nur um sich warm zu halten oder zu kochen, ist das ein revolutionärer Akt.»

Jeanne d› Arc

In der gesamten Länge von Ain’t I a Child? inszenieren leuchtende Schwarz-Weiss-Nahaufnahmen die Jugendlichen als heilige Figuren der Nacht. George vergleicht sie mit Jeanne d’Arc: «Jeanne wird von der Ultra-Rechten als Symbol benutzt, aber sie ist auch die Inkarnation der Jugend. Sie lehnt die ihr auferlegte Realität ab und erschafft sich ihre eigene. Sie ist ungeduldig und brennt mit demselben Feuer, das ich in der Jugend dieses Films sehe — dem Wunsch, die Welt zu zerstören und eine neue aufzubauen.»

Spiel wird zu einer Möglichkeit, Feindseligkeit in fantasievolle Überlebensstrategien zu verwandeln. Im letzten Teil, Fantasia, performen Mallik und sein Freund mit Superheldenmasken und Umhängen aus Folien um ein Feuer herum. «Es ist Dokumentation und Fantasie zugleich. Nur ein Kind kann ein iPhone in ein Raumschiff verwandeln. Die Masken sind eine Weigerung, gesehen zu werden, ein Spiel, aber auch ein Schutzschild», erklärt George.

Es gibt auch Momente tiefer Intimität, wie jener, in dem Mallik mit seinem Freund über ihre harten Realitäten spricht, über Erinnerungen an die Überfahrt und die Inhaftierung in Europa. In anderen Szenen sehen wir, wie Kinder Desinfektionsmittel auf ihren Handflächen anzünden und sich verbrennen. «Solche Handlungen werden zu einem Weg, um auszudrücken, wie sie innerlich verbrannt sind, sowohl in Bezug auf den Schmerz als auch auf das Verlangen.»

 Für George muss jedes Bild dynamisch, gegensätzlich und dialektisch bleiben. «Das Dunkle, das Undurchsichtige wird immer von der Düsterkeit der Kontrolle, der biopolitischen Undurchsichtigkeit, aber auch der Obskurität des Aufstands überlagert. Es ist sehr wichtig, Dinge dynamisch darzustellen, um den Grenzen fester Definitionen und der Viktimisierung zu entkommen. Ich möchte Filme machen, in denen es um eine Befragung geht. Um eine Art permanenter Revolution.»

Editiert von Catherine Hickley. Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove

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