Godard und Tanner: Die Schweiz verliert zwei Filmlegenden
Jean Luc Godard bei Dreharbeiten in Frankreich 1986.
Roland Allard/agence Vu
Jean-Luc Godard und Alain Tanner, die im Abstand von nur zwei Tagen verstorben sind, hinterlassen eine grosse Lücke in der Schweizer Filmwelt. Beide haben ihre Epoche stark geprägt und erweiterten mit ihrem Schaffen die helvetischen Grenzen. Eine Hommage.
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Ghania Adamo
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«Godard est un continent, alors que Tanner est un pays»
Original
Der eine rief den anderen in den Himmel, so könnte man es ausdrücken. Alain Tanner verliess diese Welt am Sonntag, den 11. September, gefolgt von Jean-Luc Godard am Dienstag, den 13. September.
Es scheint, als ob der erste schon anfing, sich dort oben zu langweilen ohne den anderen. Was machen sie jetzt? Vielleicht entwerfen sie Szenarien, um Gott und seine Engel zu verblüffen. Das würde nicht erstaunen: Denn alles war unerwartet an diesen beiden Künstlern, jeder auf seine Weise einzigartig.
Der eine, Tanner, 1929 in Genf geboren, ist der Initiator der Groupe 5, einer Vereinigung, die er 1968 mit seinen Freunden und Westschweizer Regisseuren Jean-Louis Roy, Claude Goretta, Michel Soutter und Jean-Jacques Lagrange gründete. Die 5 waren der Ursprung dessen, was man noch heute als «Neuer Schweizer Film» bezeichnet, der über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt wurde.
Der andere, Jean-Luc Godard (JLG), wurde 1930 in Paris geboren und ist eine prägende Figur der Nouvelle Vague. Eine wichtige künstlerische Bewegung des französischen Kinos, die Anfang der 1960er-Jahre den Aufruhr einer ganzen Epoche zum Ausdruck brachte und weltweit Wellen schlug.
Ein gemeinsames Merkmal
«Ein Merkmal verbindet die beiden Filmemacher: der Humor. Leichte Intelligenz bei Tanner, kritische Poesie bei Godard. Unsere Gesellschaften sind leider von einer grossen Ernsthaftigkeit geprägt. Tanners Sprache bringt eine Atempause, sie ist von Spott durchzogen; eine Sprache, die ich bei Jean-Luc Godard wiederfinde», sagt der französische Regisseur, Filmhistoriker und -kritiker Frédéric Bas.
Die beiden Künstler haben jedoch nicht die gleiche internationale Reichweite. «Godard ist ein Kontinent, Tanner ein Land», sagt Bas, der das fast gleichzeitige Verschwinden der beiden Künstler als «verrückte Ironie» empfindet.
«Charles, mort ou vif», Alain Tanner, 1969, Schweiz.
AFP
Die Filmrollen für eine Retrospektive von Alain Tanners Werk an den Solothurner Filmtagen im Januar 1996. Und eine Szene aus «Charles mort ou vif» von 1969.
Alamy Stock hoto
«La Salamandre», Alain Tanner, 1971, Schweiz, mit Bulle Ogier und Jean-Luc Bideau.
AFP
Der Schweizer Regisseur Alain Tanner bei den Dreharbeiten zu seinem Film «Jonas qui aura vingt-cinq ans en l’an 2000» (Jonas, der im Jahr 2000 fünfundzwanzig Jahre alt sein wird), 1975. Im Hintergrund sind die Kinder einer Klasse aus Genf zu sehen, die im Film mitspielten.
Keystone
Regisseur Alain Tanner während der Dreharbeiten zu einer Szene für «Jonas qui aura vingt-cinq ans en l’an 2000».
Alamy Stock Photo
Dreharbeiten zu Alain Tanners Film «Messidor» in Zürich, mit den Schauspielerinnen Catherine Retore (Marie) und Clémentine Amouroux (Jeanne), aufgenommen am 15. August 1978.
Niklaus Stauss/Keystone
Der Regisseur Alain Tanner wird von den Schauspielern Trevor Howard (rechts), Mick Ford (2. von rechts) und der Schauspielerin Odile Schmitt bei der Vorstellung seines Films «Les années lumineuses» am 19. Mai 1981 während der Internationalen Filmfestspiele von Cannes begleitet.
AFP
Szene aus dem Film «Dans la ville blanche» (in der weissen Stadt) von Alain Tanner, 1983, mit dem Schweizer Schauspieler Bruno Ganz.
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Szene aus dem Film «Une flamme dans mon coeur» (Eine Flamme in meinem Herzen), Alain Tanner, 1987, mit der Schauspielerin Myriam Mézieres und Aziz Kabouche.
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Szene aus dem Film «La vallée fantôme» (das Geistertal), Alain Tanner, 1987, mit den Schauspielern Jean Louis Trintignant, Jacob Berger und Laura Morante.
AFP
«L’homme qui a perdu son ombre» (Der Mann, der seinen Schatten verloren hat), Alain Tanner, 1991.
akg-images
Dreharbeiten zu «Le Journal de Lady M», Alain Tanner, 1993 mit den Schauspielern Juanjo Puigcorbe und Myriam Mézieres.
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Beide gingen mit der Ironie sehr geschickt um. Davon zeugen «A bout de souffle», «Le Mépris», «Pierrot le fou», «Je vous salue Marie» auf Seiten Godards. Und «Charles mort ou vif», «Jonas qui aura vingt-cinq ans en l’année 2000», «La Salamandre» auf der Seite von Tanner. Ernste, aber nie schwere Filme.
Die Kamera ist kein Gewehr
«Tanner hat die Kamera nie als Gewehr betrachtet», sagt Bas. «Er ist der einzige französischsprachige Filmemacher, der den Geist des Mai 68 mit Leichtigkeit erfasst hat. Sehr schnell erkannte er die Nichtigkeit von Ideologien. Ich habe oft mit ihm über ‹Charles mort ou vif› [Manifestfilm aus dem Jahr 1969, Anm. d. Red.] gesprochen, und er sagte mir, dass man Utopien durchaus mit Spott betrachten kann, ohne sie zu verleugnen.»
Alain Tanner posiert mit dem Ehrenleoparden beim 63. Internationalen Filmfestival von Locarno im August 2010.
Jean-Christophe Bott/Keystone
Tanner blieb in der Schweiz und machte nicht die grosse Karriere von JLG, der lange Zeit in Paris lebte, bevor er sich vor etwa vier Jahrzehnten in Rolle im Waadtland niederliess. Sein Aufenthalt in Frankreich, seine Teilnahme an der Nouvelle Vague und seine harte Arbeit gaben seiner Berühmtheit einen gewaltigen Schub. «Jahrzehntelang hat Godard unermüdlich an seinem Film gearbeitet. Er transzendierte sogar den Status des Filmemachers innerhalb der Nouvelle Vague. Solange er die Energie hatte, arbeitete er», sagt Bas.
Ein Rockstar
Ist Godard eine Ikone? «Besser gesagt, ein Rockstar», korrigiert Bas. Der Filmemacher besuchte gerne die Campus in den USA, wo er bekannt war, und faszinierte die jungen Leute. Er beeinflusste sowohl das europäische als auch das amerikanische Kino, insbesondere das von Quentin Tarantino, der seine Produktionsfirma nach einem Godard-Film benannt hat: «Bande à part».
Der französisch-schweizerische Regisseur Jean-Luc Godard wird während eines Treffens zu seinem Film «Amour et Colère» interviewt. Italien, 1969.
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Jean-Luc Godard, Regisseur, geboren 1930 in Paris.
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Jean-Luc Godard leitet Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg an in «A bout de souffle» (Ausser Atem), September 1959.
AFP/Alain Adler/Roger-viollet
Jean-Luc Godard mit Anna Karina, Rom, 1962.
Akg-images / Uig / Marka
Szene aus dem Film «Week end» von Jean-Luc Godard, 1967 mit der Schauspielerin Mireille Darc und Jean Yanne.
AFP/Adams Filmi/Gaumont
Mick Jagger und Bill Wyman mit Regisseur Jean Luc Godard bei den Dreharbeiten zum Film «Sympathy for the Devil», 1968.
Alamy Stock Photo
Jean-Paul Sartre und andere Intellektuelle halten in der Druckerei von «La Cause du Peuple» eine Pressekonferenz ab, um die Zeitung zu unterstützen. Sartre ritt auf seinem berühmten Fass wie ein moderner Diogenes vor den Renault-Werken in Billancourt. Er wurde von Jean-Luc Godard, assistiert von Jean-Pierre Bamberger, mit tragbarem Video gefilmt, Paris 1970.
Keystone/Bruno Barbey/Magnum Photos
Szene aus «Rette sich, wer kann (das Leben)» von Jean Luc Godard, 1980, mit Isabelle Huppert.
AFP/Sara Films/Gaumont
Porträt des französisch-schweizerischen Regisseurs Jean-Luc Godard, fotografiert 1990 in Zürich.
Jann Jenatsch/Keystone
Der Regisseur Jean-Luc Godard bei der Verleihung des Grand Prix Design, fotografiert am 30. November 2010 im Museum für Gestaltung in Zürich.
Gaetan Bally/Keystone
Ein am 13. September 2022 aufgenommenes Foto zeigt das Haus von Anne-Marie Miéville, der Lebensgefährtin des französisch-schweizerischen Regisseurs Jean-Luc Godard, in Rolle.
AFP
Am Ende seines Lebens empfing der Mann aus Rolle viele Gäste in seinem Haus. «Journalisten besuchten ihn, so wie man Voltaire in Ferney besuchte», sagt Bas lachend.
Zart und hart, lustig und melancholisch, leutselig und einsam, fantasievoll und vernünftig, ungewöhnlich und konsequent – Godard besass alle Widersprüche grosser literarischer Persönlichkeiten. Er konnte anziehen, wie er auch abschrecken konnte. Er hatte etwas von Alceste, dem «Misanthropen», den Molière in seinem gleichnamigen Stück verewigte. Godard hatte einen Sinn für Repräsentation. Hatte er Spass daran, eine Rolle oder mehrere Rollen zu spielen?
Jean-Luc Godard in Paris 1998.
Keystone/Richard Dumas/Vu
Genialer Handwerker und Philosoph
«Sein Tod ist das Ende einer Welt, genau wie der Tod von Picasso. Für das Kino war er ein genialer Handwerker-Philosoph», schwärmt Bas. Im Theater wäre er ein aussergewöhnlich tragischer und komischer Held gewesen. Ein weiterer Widerspruch! Auf diesem rutschigen Terrain hielt Godard jedoch ein perfektes Gleichgewicht. Er verwirrte das breite Publikum, das seine Filme nie verstand, und begeisterte die Cineasten, die auf seine Filme begeistert reagierten.
«Godard ist ein Kontinent der Presse und des Verlagswesens», schreibt der Franzose Antoine de Baecque, der dem Filmemacher eine imposante Biografie (Grasset 2010) gewidmet hat. Kontinent: Dieses Wort fällt oft, wenn man von Godard spricht. In ihm gibt es Berge, Ebenen und Ozeane. Seine Landschaft war sehr weitläufig.
Bilder ausgewählt von Thomas Kern.
Text adaptiert aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi
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