«In einem kolonialen Projekt gibt es keinen Austausch»
Schokolade ist genauso wie der Architekt Le Corbusier Teil der Kolonialität, die das Verhältnis auch der Schweiz zum globalen Süden heute noch kennzeichnet. Ein Gespräch mit der Architekturhistorikerin Samia Henni.
Samia Henni ist eine Grenzgängerin: Aufgewachsen in Algerien, hat sie in der Schweiz dazu promoviert, wie die französische Kolonialmacht die Architektur einsetzte, um die algerische Revolution zu bekämpfen. Heute lehrt sie am College of Architecture, Art and Planning der Cornell University in Ithaka, New York.
Ihre historischen Interessen reichen von Atombombentests in der Wüste über Kriegsgebiete und Deportationen bis hin zu Rassismus- und Genderfragen. Zurzeit arbeitet sie mit dem Schweizer Projekt NEXPO zusammen, das aus einer Initiative der zehn grössten Schweizer Städte entstanden ist, die nächste Landesausstellung zu planen.
swissinfo.ch: Sie haben in der Schweiz gelebt, studiert und gearbeitet. Welche Überbleibsel des Kolonialismus sind Ihnen dort im Alltag begegnet?
Samia Henni: Schokolade. (lacht) Ich liebe Schokolade, wirklich. Sie gilt als Teil der Schweizer Kultur, weltweit. Aber wenn man sich die Geschichte, den Handel oder die Gewinnung von Kakao anschaut, sind die Verbindung offensichtlich: Erst durch den Import von Kakaobohnen – und anderen Zutaten wie Zucker – aus den Kolonien wurde Schokolade zu einem Produkt, das mit der Schweizer Identität verbunden werden konnte.
Als ich an der ETH Zürich ein Seminar gab zum Thema «Kolonialismus und Architektur», wagte ich einen Test: Ich zeigte meinen Student:innen ein Schaufenster in der Zürcher Altstadt mit einem Schild, auf dem «Kolonialwaren» stand. Die meisten sagten: «Oh, das ist in Paris», «Amsterdam!» «London» – obwohl es auf Deutsch geschrieben war. In der Schweiz wird der Handel mit Kolonialwaren nicht wirklich als Teil von Kolonialität thematisiert – er wurde erfolgreich weissgewaschen.
Sie sagen «Kolonialität» – was meinen Sie damit?
«Kolonialität» hat den Kolonialismus in vielerlei Hinsicht überlebt. Koloniale Denkmuster und Handlungen bestehen auch ohne den Kolonialismus – und auch ausserhalb ehemaliger Kolonien – weiter, in Hierarchien, die denen des Kolonialismus sehr ähnlich sind.
«Kolonialität» zeigt sich beispielsweise, wenn man Ausbeutung und Enteignung als wirtschaftlichen «Austausch» bezeichnet. Doch ein Austausch bringt beiden Parteien einen echten Vorteil – in einem kolonialen Projekt gibt es keinen Austausch.
Können Sie mir ein Beispiel nennen?
Der 1902 gegründete US-amerikanische Agrochemie- und Agrarkonzern Monsanto zum Beispiel verkauft heute jedes Jahr neues Saatgut, das Früchte hervorbringt, die keine fruchtbaren Samen enthalten, weil sie gentechnisch verändert sind. Die Menschen müssen also jedes Jahr neues Saatgut kaufen und sind abhängig von diesem globalen Konzern. Für mich ist das eine gewalttätige, koloniale Beziehung und kein fruchtbarer Austausch.
Wo sehen Sie als Architekturhistorikerin das Erbe des Kolonialismus?
Die meisten europäischen Hauptstädte wurden aufgrund der ausbeuterischen Bedingungen gebaut, die der Kolonialismus in die Welt brachte. Die Moderne ist nicht nur Erbe des Kolonialismus, sondern Teil desselben Projekts. Der Architekt Le Corbusier zum Beispiel, der zum Kanon der Moderne gehört, war am kolonialen Projekt beteiligt.
Auf welche Weise?
1930, anlässlich des 100. Jahrestages der französischen Kolonisierung Algeriens, organisierten die französischen Kolonialbehörden verschiedene Festveranstaltungen. Im Anschluss an diese Veranstaltungen wurde Le Corbusier von der einflussreichen Association d’urbanisme Les Amis d’Alger (Vereinigung der Freunde des Städtebaus von Algier) nach Algier eingeladen.
Er sollte ein neues Projekt für Algier vorstellen, das die Kasbah, die Altstadt Algiers, modernisieren sollte. In einer grandiosen, autoritären Geste präsentierte er ein Projekt, das das urbane Gefüge von Algier und die sozialen und religiösen Gewohnheiten der damaligen Zeit völlig zerstört hätte.
Doch es wurde nie gebaut.
Es wurde nicht verwirklicht. Aber seine modernistische Planung stand in keiner Weise im Gegensatz zum kolonialen Projekt – auch für ihn gab es zwei völlig getrennte Teile von Algier, «la ville musulmane» (die muslimische Stadt) und «la ville européene» (die europäische Stadt). Und auch er wollte in erster Linie für Ordnung sorgen, für «law and order».
Aber das ist doch auch in europäischen Städten zu finden? So hat der Stadtplaner Georges-Eugène Baron Haussmann im 19. Jahrhundert Teile von Paris dem Erdboden gleichgemacht – um mehr Ordnung zu schaffen.
Dies ist ein fantastisches Beispiel. Denn als die französische Armee 1830 in Algier eintraf und die so genannte «Unordnung» der Kasbah sah, riss sie einen grossen Teil dieses Stadtgefüges ab, um der Stadt eine sehr strenge «Ordnung» aufzuerlegen. Sie rissen Häuser ab, errichteten grosse Boulevards und einen grossen Platz mit dem Namen «La Place d’Armes». So konnten die französischen Soldaten die Bevölkerung besser überwachen.
Diese Erfahrungen wurden dann in Paris genutzt, vor allem nach der Revolution von 1848. In einer «geordneten» Stadt ist es schwierig, einen Aufstand zu organisieren und aufrechtzuerhalten. Algier war dafür ein Labor.
Die Menschen, die in der Kasbah lebten, wussten, wie sie sich fortbewegen, wie sie alle Orte und Märkte erreichen konnten – der Wunsch nach «Ordnung» kam von der französischen Kolonialarmee, die das Raster bevorzugte, weil es Sichtbarkeit bot und hindernisfreier funktionierte. Die Vorstellung von «Ordnung», für die die moderne Stadtplanung steht, ist einer völlig eurozentrischen und militärischen Sichtweise geschuldet.
Diese Sichtweise brachte auch Verachtung für die Menschen in den Kolonien mit sich. Der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin fragte sich in seinem sehr berühmten Text über Leukerbad in den 1950er-Jahren, wie die Menschen in diesem winzigen Schweizer Dorf dazu kamen, ihn als verachtenswertes menschliches Wesen zu betrachten.
Ein Beispiel dafür, wie die Vorstellung verbreitet wurde, Schwarze seien gefährlich und schmutzig, sind die Menschenzoos, wie sie 1896 an der Landesausstellung in Genf, 1925 in Zürich und 1926 im Zoo Basel gezeigt wurden. Sie sind auch ein schlagendes Argument gegen diejenigen, die behaupten, die Schweiz habe sich damals nicht an einem kolonialen Projekt beteiligt. Diese Menschenzoos machten Menschen – aus kolonialisierten Gebieten in Afrika und Asien – zu lebenden Attraktionen und propagierten rassistische Vorurteile und diskriminierende Konstrukte.
Warum stellte man diese Menschen ausgerechnet in einer Schweizer Landesausstellung aus?
Ziel dieser Art von Ausstellungen war es, zu zeigen, was diese Länder nicht nur an wirtschaftlichem Kapital, sondern auch an Kultur, Waren und Gegenständen anhäufen konnten. Der Menschenzoo erlaubte es Besuchern zudem, sich als weisse Europäer über die als minderwertig angesehenen «Unzivilisierten» zu erheben.
Es stellt sich die Frage, wer entscheidet, was und wer wem unterlegen ist? Auf Grund welcher Kriterien? Diese Art von Bewertungen und Kategorisierungen sind der deutlichste Ausdruck der Kolonialität, die das Handeln und Denken der Menschen bis heute durchdringt.
Auch wenn viele Institutionen hart daran arbeiten, die Spaltungen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen, sind wir noch nicht am Ziel. Rasse, Geschlecht, Klasse und sexuelle Orientierung – um nur einige Kategorien zu nennen – spielen im Alltag vieler Menschen immer noch eine entscheidende Rolle, beruflich wie privat. Die Kritik an eben dieser Kolonialität erlaubt es uns jedoch, weiter daran zu glauben, dass es anders sein könnte.
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