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Pfahlbauten fürs Unesco-Welterbe

2007 zeigte das Fernsehen eine Serie über zwei Familien, die für die TV-Sendereihe unter den gleichen Bedingungen wie die Pfahlbauer in Pfyn beim Bodensee lebten. Keystone

Die Pfahlbauten an den Seeufern, die während 3,5 Jahrtausenden die Vorgeschichte der Schweiz ausmachen, kandidieren als Unesco-Welterbe. Tauchfunde belegen, dass die Schweiz bis in die Bronzezeit zu den zivilisiertesten Regionen nördlich der Alpen gehörte.

Am 25. Januar haben sechs Vertreter der Länder des Alpenbogens in Bern die Pfahlbau-Kandidatur für die Aufnahme ins Unesco-Welterbe unterzeichnet. Am Dienstag wird sie dem Welterbe-Komitee in Paris übergeben. Die Kandidatur ist in zweierlei Hinsicht eine Premiere: Erstens befinden sich die Welterbestätten hauptsächlich unter dem Wasserspiegel und zweitens sind sie auf mehrere Länder verteilt.

Die Bezeichnung Pfahlbauer-Zivilisation leitet sich von den Pfählen ab, die ins Seeufer der Seen eingeschlagen wurden, und auf denen man die Häuser vermutete. Zwischen der jüngsten Steinzeit und der Bronzezeit, also zwischen 4300 und 800 v. Chr., zählt man rund 30 verschiedene Pfahlbau-Kulturen, die sich rund um die Seen und die Ebenen erstreckten, die den Alpen vorgelagert sind.

Bei den Pfahlbauern selbst handelte es sich nicht um Kelten – jene Völkergruppe also, die später diese Regionen bewohnte. Sie kannten die Schrift noch nicht, und niemand weiss, was für eine Sprache sie wohl benutzt haben könnten. Man kann nur vermuten, dass sie verschiedene Dialekte einer gemeinsamen Sprache nutzten, die in dieser Region nördlich der Alpen verbreitet gewesen sein muss.

Der Pfahlbauer-Mythos

Die Pfahlbauer-Periode schliesst an die Sesshaftwerdung der Jäger-Sammler an, die seit dem Ende der Eiszeit in Europa herumzogen. Der Grund, weshalb sie sich an den Seeufern niederliessen, bleibt jedoch ein Rätsel.

Genau dieses Rätsel war der Ursprung der Mythen rund um die Pfahlbauerdörfer, die auf grossen Plattformen gebaut wurden, die auf Pfählen ruhten. 1854 wurden erstmals archäologische Funde von Pfahlbauten im Zürichsee gemacht: Hunderte von Pfählen und andere Fundgegenstände sorgten damals für grosses Aufsehen.

Weitere Fundstätten kamen neu dazu, und der gerade gegründete Bundesstaat nutzte die Gelegenheit, um für die Schweiz eine Vergangenheit zu zimmern, die von Harmonie und Konsens geprägt gewesen sein soll. Die Regierung bestellt beim Maler Auguste Bachelin entsprechende Bilder, die wiederum als Inspiration für weitere Illustrationen dienten: Während eines Jahrhunderts ist damit das romantische Bild der Pfahlbauer-Idylle gefestigt worden.

Doch die Wirklichkeit sah anders aus: Die im Boden gefundenen Pfähle sind eigentlich Elemente der Hausmauern selbst, die mit dem langsamen Anstieg des Wasserspiegels der Seen unter Wasser gerieten, lange nachdem sie als Behausungen bereits aufgegeben worden waren. Mit anderen Worten: Pfahlbauten-Dörfer über dem Wasserspiegel gab es nie, sondern eher Dörfer am Seeufer und im Sumpfgebiet, mit Häusern/Hütten, die entweder unmittelbar auf dem Boden oder auf kleinen Pfeilern standen.

Wasserwunder

Die Pfahlbauten reichten zwar lange nicht an die monumentalen Tempelbauten heran, die zur gleichen Zeit weiter südlich, im Ägypten der Pharaonen, ihre Blütezeit hatten. Doch handelte es sich auch bei den Pfahlbauern um raffinierte und geschickte Menschen.

Ihre Werkzeuge aus Stein und Holz, später auch aus Metall, zeugen von einem grossen Wissen. Sie kannten das Rad, auch wenn sie noch keine Wege oder Strassen hatten. Und sie schmückten ihre Pferde grosszügig. Ihre Keramik kann sich ohne weiteres sehen lassen, und sie bastelten sogar Saugflaschen und Spielsachen für ihre Kinder.

Dass wir heute noch so viel über die Menschen wissen, verdanken wir dem Wasser. Ähnlich wie die absolute Trockenheit der ägyptischen Wüste ermöglichen auch die ständige Feuchtigkeit und die Absenz von Sauerstoff im Wasser eine gute Konservierung von Gegenständen, inklusive von organischen Stoffen.

Man fand Pfahlbauer-Instrumente inklusive ihrem hölzernen Griff, Textilien und sogar Nahrungsmittel mit Körnern. “Die Vielfalt der Funde ist ausserordentlich gross”, sagt Marc-Antoine Kaeser, Direktor des Laténium in Neuenburg, das eine reichhaltige Sammlung an prähistorischen Gegenständen aufweist und dafür 2003 den Museumspreis des Europarats erhalten hat.

Erstaunlich beim Betrachten der rund 3000 Objekte dieser Sammlung ist, dass dieser ganze Schatz an Gegenständen praktisch ausschliesslich vor Ort gefunden wurde (eine halbe Million weiterer Fundstücke wartet noch in den Depots des Museums).

Schweiz als Wiege Europas?

Heisst das, dass die Region der gegenwärtigen Schweiz in dieser Epoche eine Art Wiege der Zivilisation Europas war? Denn rund 450 der bisher untersuchten 1000 Pfahlbauten liegen in der Schweiz.
Laténium-Direktor Kaeser will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Aus seiner Sicht hat die ausserordentliche Konzentration auf Schweizerisches Gelände mit dem Umstand zu tun, dass es hier viele Seen hat.

“Andererseits hatte die grosse Popularität der Pfahlbauten in der Schweiz zur Folge, dass nach deren Erstentdeckung Mitte des 19. Jahrhunderts alle Nachfolgenden ebenfalls untersucht und zum Teil sogar unter Schutz gestellt wurden”, so Kaeser. “In unseren Nachbarländern hingegen dürften viele Fundstellen aus Nachlässigkeit zerstört worden sein.”

Während 35 Jahrhunderten durchlief Europa Phasen der Krise und des Fortschritts. So waren auch die Seeufer nicht immer durchwegs bewohnt. Und plötzlich, in wenigen Jahrzehnten rund um das Jahr 800 v. Chr., verschwinden die Pfahlbauer-Dörfer plötzlich.

Neue Zeiten am Horizont

“Diese Abwanderung hat mit einem Klimawechsel, einer Abkühlung, zu tun”, sagt Kaeser: “Dabei muss man sich keine Katastrophen vorstellen, eher eine Schrumpfung der landwirtschaftlichen Rentabilität, begleitet von einem Rückgang der Bevölkerung.”

Die Abwanderung hat auch mit den Vorgängen zu tun, die sich zur selben Zeit im Mittelmeerraum abspielten: In Italien wurde Rom gegründet, in Griechenland die ersten Olympischen Spiele durchgeführt.

“Die letzten Pfahlbauer-Dörfer waren fast schon Städte, sehr reich, sehr gross, und vielleicht sehr zerbrechlich – ähnlich wie unsere gegenwärtige Gesellschaft es ist.” Die Folge war eine verstreute Siedlungsweise und eine neue politische Organisation. Die politischen Strukturen der Pfahlbauern scheinen ziemlich demokratisch und ruhig, aber die darauf folgenden viel eher auf militärische und kriegerische Werte ausgerichtet gewesen zu sein.”

(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)
Marc-André Miserez, swissinfo.ch

156 Pfahlbau-Fundstellen in sechs Alpenländern wurden für die Kandidatur für eine Aufnahme ins Unesco-Welterbe ausgewählt.

82 Fundorte – das sind mehr als die Hälfte – befinden sich in der Schweiz.

In Deutschland und in Italien wurden je 25 Fundstellen ausgewählt, in Frankreich 15, in Österreich 8 und in Slowenien eine.

Die transnationale Kandidatur ist ein Novum. Das Dossier wurde unter der Führung der Schweiz vom Bundesamt für Kultur und dem Verein “Palafittes” zusammengestellt.

Der Entscheid der Unesco wird im Sommer 2011 erwartet.

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