Von der Herausforderung, einen Völkermord nachzuweisen
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag muss entscheiden, ob das Vorgehen Israels in Gaza gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser einen Völkermord darstellt. Entscheidend für das Urteil werde die Frage sein, ob die Tötungen nachweislich mit vorsätzlicher Absicht erfolgten, schreibt Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch.
Da mein Vater im Juli 1938 als 12-jähriger Junge aus Nazideutschland floh, wuchs ich mit einem tiefen Bewusstsein für das Böse auf, das Regierungen anrichten können.
Das ist einer der Gründe, warum ich mein Leben der Verteidigung der Menschenrechtsstandards gewidmet habe, die dazu beitragen, Unterdrückung zu verhindern. Ich habe das Gelübde «Nie wieder» ernst genommen.
Aber die Entschlossenheit, solche Gräueltaten zu verhindern, bedeutet nicht, dass alles erlaubt ist. Vielmehr verlangen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre VölkerrechtExterner Link, dass Regierungen auch in bewaffneten Konflikten bestimmte Massnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergreifen müssen.
Die israelische Öffentlichkeit war verständlicherweise traumatisiert durch den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Das Töten und Entführen von Zivilpersonen sind offensichtliche Kriegsverbrechen.
Aber das Gesetz sagt auch eindeutig, dass Kriegsverbrechen der einen Seite niemals Kriegsverbrechen der anderen Seite rechtfertigen. Die Anforderungen des humanitären Völkerrechts sind absolutExterner Link und hängen nicht von der Einhaltung durch die Gegenseite ab.
Israel hätte die Hamas bekämpfen sollen, indem es ihre Kämpfer angegriffen und gleichzeitig einen angemessenen Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung garantiert hätte.
Doch so sind die Dinge nicht gelaufen, wie die umfangreichen Bombardierungen und die Aushungerung der palästinensischen Zivilbevölkerung zeigen. Es wurden Kriegsverbrechen begangenExterner Link.
Das Völkerrecht erlaubt sicherlich nicht, dass im Namen der Verteidigung Israels ein Völkermord im Gazastreifen erfolgt. Doch genau dies wird Israel von der südafrikanischen und anderen Regierungen vorgeworfenExterner Link.
Manche Menschen setzen den Begriff Völkermord umgangssprachlich mit jeder Art von Massengräueltat gleich, doch tatsächlich hat dieser Begriff eine spezifische rechtliche Definition.
Die Völkermordkonvention der Vereinten NationenExterner Link, ein von 153 StaatenExterner Link unterzeichnetes ÜbereinkommenExterner Link, definiert Völkermord als Handlungen, die in der Absicht begangen werden, «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».
Die für Gaza relevanteste verbotene Handlung ist die «vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen» (Art. 2 Abs. c).
«Es ist klar, dass es eine Absicht gibt, die Palästinenser zu vernichten», sagte die Vorsitzende der UNO-Kommission, die südafrikanische Juristin Navi Pillay:
Eindeutige Beispiele für Völkermord sind der Holocaust oder der Genozid von Ruanda. Diese richteten sich gegen eine Gruppe «als Ganzes». Ab einem bestimmten Zeitpunkt versuchten die Nazis in Deutschland, so viele Jüdinnen und Juden wie möglich zu töten. In Ruanda ermordeten die Hutu-Extremisten möglichst viele Tutsi. Völkermord war das primäre Ziel.
Aber was bedeutet es, eine Gruppe «teilweise» zu zerstören? Dies kann der Fall sein, wenn die Tötung nicht auf jedes Mitglied einer bestimmten Gruppe abzielt, sondern auf eine ausreichende Anzahl von ihnen, um ein anderes unrechtmässiges Ziel zu erreichen.
So hat beispielsweise das Militär in Myanmar im Jahr 2017 etwa 10’000 Rohingya (muslimische Minderheit) ermordetExterner Link, um 730’000 Rohingya zur Flucht nach Bangladesch zu zwingenExterner Link.
In diesem Fall war der Völkermord ein Mittel zum Zweck der Zwangsdeportation. Durch dieses Beispiel lässt sich besser verstehen, was der israelischen Regierung heute in Gaza vorgeworfen wird.
Allerdings ist es schwierig, Völkermord rechtlich nachzuweisen. Das Problem sind weniger die Taten selbst. Es wird kaum bezweifelt, dass die Handlungen Israels ausreichen, um die Voraussetzungen für die Einstufung als Völkermord zu erfüllen.
Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 wurden in Gaza bis Juli 2025 mehr als 60’000 Palästinenser:innen getötetExterner Link. Eine Studie vom November 2024 ergab, dass fast 70% der Getöteten Frauen und KinderExterner Link waren. Offensichtlich waren auch viele männliche Opfer keine Hamas-Kämpfer.
Die Zahl der getöteten Zivilpersonen übersteigt damit bei weitem die 8000 Menschen, die 1994 von bosnisch-serbischen Truppen in Srebrenica getötet wurdenExterner Link, ein Massenmord, der von einem internationalen Tribunal als Völkermord eingestuftExterner Link wurde.
Obwohl viele Menschen in Gaza nicht absichtlich getötet wurden, war ihr Tod das Ergebnis der offensichtlichen Missachtung des Lebens palästinensischer ZivilpersonenExterner Link durch Israel – beispielsweise durch die Zerstörung palästinensischer Wohnviertel mit riesigen 2000-Pfund-Bomben, die Akzeptanz von 20 toten Zivilisten als Preis für die Tötung eines einfachen Hamas-Kämpfers oder die wiederholte Tötung hungernder Palästinenser:innenExterner Link, die an von Israel organisierten Verteilstellen Nahrungsmittel besorgen wollten.
Unterdessen hat Israel als Strafmassnahme einen Belagerungszustand über die Zivilbevölkerung in Gaza verhängt und den Zugang zu Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern für längere Zeit blockiert.
Darüber hinaus wurden mindestens 70% der Gebäude zerstörtExterner Link. Überlebende Bewohner:innen des Gazastreifens werden in primitive Flüchtlingslager gesteckt, die regelmässig verlegt oder sogar angegriffen werden, wie Human Rights Watch dokumentiert hatExterner Link.
Zivile Einrichtungen wurden zerstört, die für das Leben in dieser Enklave notwendig sind, darunter Spitäler, Schulen, religiöse und kulturelle Einrichtungen sowie ganze Stadtviertel. Es ist davon auszugehen, dass diese Lebensbedingungen indirekt zu Todesfällen geführtExterner Link haben, deren Zahl möglicherweise um ein Vielfaches über der offiziellen Zahl der Todesopfer liegt.
Wenn der Internationale Gerichtshof (IGH) die Begründung der von Südafrika gegen Israel erhobenen Anklage wegen Völkermords prüft, dürfte die zentrale Streitfrage lauten, ob Israel diese Massnahmen mit der nötigen Absicht für einen Völkermord ergriffen hat. Anders gefragt: Versucht Israel, die palästinensische Zivilbevölkerung ganz oder teilweise auszulöschen?
In diesem Zusammenhang sind einige Äusserungen hochrangiger Repräsentanten Israels zu notorischer Bekanntheit gelangt. Der israelische Präsident Jitzchak Herzog sagte über den Angriff der Hamas vom 7. Oktober, «dass die Rhetorik, wonach Zivilpersonen nichts davon wussten und nicht beteiligt waren, falsch istExterner Link». Zivilpersonen hätten sich gegen die Hamas erheben können, auch wenn es sich um eine brutale Diktatur handle.
Der ehemalige israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant sprach von einem Kampf gegen «menschliche Tiere»Externer Link – notabene nicht, wie immer wieder behauptet wird, in Bezug auf die Hamas, sondern in Zusammenhang mit der Belagerung, von der alle Menschen in Gaza betroffen sind.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst berief sich auf das biblische Volk der Amalekiter, von denen Gott angeblich «die Tötung aller Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge»Externer Link verlangt habe.
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Wann ist es ein Völkermord?
Andere israelische Politiker halten sich in ihren öffentlichen Äusserungen jedoch stärker an die gesetzlichen Anforderungen zum Schutz der Zivilbevölkerung. Daher wird der IGH wahrscheinlich auch prüfen, ob aus dem Verhalten Israels im Gazastreifen eine genozidale Absicht abgeleitet werden kann. Hier führt die konservative Rechtsprechung des Gerichts zu einer Komplikation.
In seinem Entscheid von 2015 im Fall Kroatien gegen SerbienExterner Link urteilte das Gericht, dass eine Völkermordabsicht aus dem Verhalten nur abgeleitet werden könne, wenn dies «die einzige Schlussfolgerung ist, die sich vernünftigerweise aus den fraglichen Handlungen ziehen lässt».
Da die Tötungen in diesem Fall auch mit dem Ziel der Zwangsumsiedlung begangen wurden, entschied das Gericht, dass daraus keine Völkermordabsicht abgeleitet werden könne.
Das Gericht ignorierte die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von zwei Absichten – eine zur Begehung von Völkermord und eine zur Förderung ethnischer Säuberungen – und legte in seiner Entscheidung ungewöhnlicherweise nahe, dass das Kriegsverbrechen der Zwangsumsiedlung eine «Verteidigungsstrategie» gegen eine Anklage wegen Völkermords darstellen könnte.
Doch das ist eine umstrittene Ansicht.Externer Link Das Gericht hätte auch entscheiden können, dass die Frage lauten sollte, ob eine Anklage in sich schlüssig bewiesen werden kann, und nicht, ob es sich um die einzige mögliche kriminelle Handlung handelt. Da das Gericht diese Abwägung nicht vorgenommen hat, ist die konservativere Doktrin derzeit geltendes Recht.
Der IGH wird Gelegenheit haben, seine Rechtsprechung im Fall Gambia gegen MyanmarExterner Link zu den Angriffen des myanmarischen Militärs auf die Rohingya zu ändern. Über diesen Fall dürfte noch vor der Causa Israel entschieden werden.
Wenn das Gericht feststellen sollte, dass die Zwangsdeportation ein Motiv, aber keine Rechtfertigung für Völkermord war, würde dies die Grundlage für eine ähnliche Entscheidung schaffen.
Warum hat der IGH diese Interpretation vorgenommen? Er hat dies nie erklärt, sodass nur spekuliert werden kann. Aber seine Begründung könnte zum Teil auf der Ansicht beruhen, dass es bei Völkermord um das Töten möglichst vieler Menschen gehen sollte – um das Töten «als Ganzes», wie beim Holocaust und beim Völkermord in Ruanda – und nicht um das Töten oder die Schaffung tödlicher Bedingungen «als Teil» eines Mittels zum Zweck. Das entspricht jedoch nicht dem Wortlaut der Völkermordkonvention, weshalb die Entscheidung in der Kritik steht.
Selbst wenn der IGH einen Völkermord feststellen sollte, würde dies einzig zu einem rechtskräftigen Urteil gegen den Staat Israel führen, nicht jedoch zu einer strafrechtlichen Verurteilung mutmasslicher Täter.
Denn der IGH ist kein Strafgericht. Vielmehr müsste die Strafverfolgung von Personen, denen die Verantwortung für einen Völkermord vorgeworfen wird, höchstwahrscheinlich vom Internationalen StrafgerichtshofExterner Link (IStGH) übernommen werden.
Der IStGH hat Netanjahu und Gallant bereits wegen Kriegsverbrechen angeklagt und Haftbefehle ausgesprochen, weil sie palästinensische Zivilpersonen in Gaza ausgehungert und ihrer Rechte beraubt haben. Eine Anklage durch den IStGH wegen Völkermordes ist indes nicht erfolgt. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass eine solche Anklage bevorsteht.
Eine endgültige Beurteilung der Frage, ob die israelische Regierung im Umgang mit dem palästinischen Volk tatsächlich das Verbrechen des Völkermords begeht, wird wahrscheinlich einen Entscheid eines dieser beiden Gerichte abwarten müssen.
Die vom Autor geäusserten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten von Swissinfo wider.
Editiert von Virginie Mangin/livm. Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Gerhard Lob
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