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Der Aussenblick: Ein 27. Kanton? Wie die Stimme der Diaspora gestärkt werden kann

Claude Longchamp
Illustration: Helen James / swissinfo.ch

Sollen die Auslandschweizer:innen einen eigenen Kanton bilden, um bei Schweizer Wahlen bessere Chancen zu haben? Was dafür- und was dagegenspricht.

Fast so sicher wie alle vier Jahre Wahlen sind, gibt es kurz davor Klagen: Die Stimme der Fünften Schweiz wird zu wenig gehört! Denn mit dem geltenden Wahlverfahren sind Erfolgschancen von Schweizer Kandidat:innen aus dem Ausland sehr gering.

Die Forderung nach einem 27. Kanton

Diese Wahlen sind da keine Ausnahme. Der Grünen-Nationalrat Nicolas Walder fragte per Interpellation, wie Auslandschweizer:innen besser vertreten werden können. Seither gibt es in den Schweizer Medien eine Diskussion um einen 27. Kanton als neuen Wahlkreis für die Auslandschweizer:innen.

Konsequent umgesetzt hätte ein solcher Wahlkreis zwei Ständeratssitze und ein halbes Dutzend Vertreter:innen im Nationalrat. Die Fünfte Schweiz wäre im Parlament etwa so stark wie der Kanton Graubünden.

Aus der Luft gegriffen ist das Anliegen nicht. Die Expats wissen, dass Italien und Frankreich Wahlverfahren kennen, das deren Bürger:innen im Ausland feste Sitze im nationalen Parlament reserviert. Doch die Schweiz kennt so etwas nicht.

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Die Unterstützung für den Vorschlag kommt in der Schweiz auch diesmal von links. Die Ablehnung strahlt von rechts aus. Grüne, SP und GLP zeigen sich offen.

Bei vollständiger Geschlossenheit im aktuellen Nationalrat sind 85 von 200 Stimmen, im Ständerat 12 von 46 für das Anliegen. Eine Mehrheit aus SVP, FDP und der Mitte-Partei hat ausgesprochen reserviert auf die Interpellation von Nicolas Walder reagiert.

Pro- und Kontraargumente für einen 27. Kanton

Für die Gegner:innen führt der Weg in eine der beiden Parlamentskammern der Schweiz hinein exklusiv über den aktuellen Wohnkanton. Bei Personen der Fünften Schweiz ist das der letzte Wohnort in der Schweiz. Auslandschweizer:innen müssten, so die Kritiker:innen, genauso wie alle anderen Interessierten, diesen beschreiten, um gewählt zu werden.

Für einen eigenen Kanton für die Auslandschweizer:innen sprechen wiederum die systematischen Nachteile für die Personen der Fünften Schweiz im Wahlkampf. In aller Regel schafft es niemand.

Diplomat Tim Guldimann, der in Berlin lebt und sich nach seiner Pensionierung 2015 für die SP im Kanton Zürich bewarb, überwand die Wahlhürde in den Nationalrat als erster deklarierter Auslandschweizer. Im Kampf um den Ständerat hatte bisher noch keine Bewerbung aus der Fünften Schweiz Erfolg.

Die Gegnerschaft eines speziellen Wahlkreises für die Fünfte Schweiz zielt auch auf die tiefe Wahlbeteiligung unter den Auslandschweizer:innen. Wäre sie höher, würden sich die Wahlchancen von Kandidierenden aus dem Ausland automatisch erhöhen. 

In der Tat liegt die Wahlbeteiligung unter den Auslandschweizer:innen zwischen 20 und 25%, gegenüber 45 bis 50% im Inland. Die Auslandschweizer-Organisationen haben den Umstand erkannt und sich verpflichtet, mehr für die Mobilisierung ihrer Mitglieder zu tun. Ob diese Bemühungen Erfolg haben werden, bleibt offen.

Denn die Logik funktioniert umgekehrt: Gäbe es für die Auslandschweizer:innen einen eigenen Wahlkreis mit mehreren Sitzen, würde das Zugehörigkeitsgefühl gestärkt. Die Aussichten auf einen Sitz beflügeln erfahrungsgemäss die Zahl an ernsthaften Bewerbungen.

Das wiederum spornt die Parteien an, international Schwester-Organisationen aufzubauen und aussichtsreiche Bewerbungen vorzunehmen, was den Wettbewerb verstärkt und die Beteiligung ankurbelt. Umgekehrt funktioniert das nicht!

Haupthindernis: nur beschränkt gemeinsame Interessen

Die Gegner:innen eines Wahlkreises für die Auslandschweizer:innen haben noch mehr Argumente: Bei Expats gibt es nur ausnahmsweise gemeinsame Interessen, die sich aus der regionalen Herkunft ableiten. Mit dieser Voraussetzung einem neuen Kanton zu bilden und daraus ein Recht auf regionale Repräsentation abzuleiten, stösst wohl dauerhaft an Grenzen.

Gemeinsame Interessen der politisch interessierten Auslandschweizer:innen gibt es etwa bei der Personenfreizügigkeit oder der Sozialversicherung. Doch führt eine Wahl ins Parlament zu einer Mitbestimmung in allen Fragen.

Hätten die Auslandschweizer:innen mehr gemeinsame Interessen, hätte es bei Nationalratswahlen schon längst Listen mit ausschliesslich Auslandschweizer:innen gegeben, die in bevölkerungsreiche Kantonen angetreten wären und die mit Sitzfolge drei oder vier Prozent erreicht hätten.

Doch kandidieren Vertreter:innen der Fünften Schweiz in aller Regel auf parteipolitisch und weltanschaulich ausgerichteten Listen. Das mindert ihre Wahlchancen!

Gerade im Ständerat steht das quer zur Logik der Repräsentation. Denn da möchte man möglichst eine überparteiliche Zusammenarbeit aufgrund regionaler Interessen haben. Bei Auslandschweizer:innen wären das die Interessen aller Bürger:innen im Ausland.

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Was den pragmatischen Weg weist

Welche Schlüsse soll man aus all dem ziehen? Ich sehe die elementare Begründung der Befürworter:innen eines 27. Kantons. Sie nährt sich aus den schier aussichtslosen Wahlchancen für Menschen aus der Fünften Schweiz. 

Die Gegner:innen wie die Befürworter:innen eines 27. Kantons haben meines Erachtens einen Punkt – aber nicht mehr!

Das macht es meines Erachtens schwer, Auslandschweizer:innen auf die gleiche Stufe wie Kantone zu stellen.

Es spricht dafür, die parlamentarische Mitsprache analog zu einer Interessengruppe zu stärken. Davon gibt es in der Schweizer Politik sehr viele. Und wohl nicht wenige im pluralistischen Spektrum von Interessengruppen erfüllen deutlich geringere Ansprüche an die Repräsentation im Parlament als die AuslandschweizerInnen.

Bereits gibt es eine parlamentarische Gruppe “Fünfte Schweiz”, in der sich interessierte National- und Ständerät:innen versammeln. Diese Gruppe könnte man aufwerten. Sie ist die geeignete Lobby für die Auslandschweizer:innen in der Schweiz.

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Denkbar wäre auch den Auslandschweizer-Rat zu stärken. Auch er ist überparteilich ausgerichtet, und könnte zur bevorzugten Ansprechgruppe bei Vernehmlassungen mit besonderem Gewicht oder Einspruchsmöglichkeit werden.

Beides wäre auch einfacher umzusetzen. Denn die Schaffung eines 27. Kantons setzt zwingend eine Verfassungsänderung voraus. Das bräuchte eine Abstimmung mit Volks- und das Ständemehr. Ohne einen weitreichenden und überparteilichen Konsens ist dies chancenlos.

Editiert von Mark Livingston

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